Das alte Haus im Wedding

16. April 2019

Es ist ein altes Haus, dem der baldige Abbruch droht. Vor 120 Jahren wurde das Haus in der Utrechter Straße im Berliner Wedding gebaut. In dieser Zeit hat es viel erlebt, und davon berichtet es gleich zu Anfang des neuen Romans von Regina Scheer „Gott wohnt im Wedding“.  Auch in mehreren Zwischenkapiteln kommt das Haus zu Wort, liefert sozusagen eine Gesamtschau der Schicksale, deren verästelte Lebenslinien Regina Scheer nachzeichnet.

Das Haus verbindet die alten und die neuen Schicksale

Da ist Leo Lehmann, der mit seiner Enkelin Nira aus Israel gekommen ist, um das Erbe seiner Familie zu regeln, und der zufällig das Haus wieder entdeckt, das schicksalhaft mit seinem Überleben verbunden war. Und da ist die alte Gertrud, die im Haus geboren wurde und die dem jungen Leo und seinem Freund Manfred beim Untertauchen half – und aufflog. Mit Manfred starb die Liebe ihres Lebens. Gertrud soll ausziehen wie alle anderen im Haus, das ein Investor gekauft hat und „entmieten“ will. Hätte sie nicht Laila, die kluge und hilfsbereite Sintiza, oder Stephan, den Studenten aus der WG, wäre sie ganz vereinsamt. Aber das Haus verbindet die alten und die neuen Schicksale, die Juden und die Sintis, die Jungen und die Alten.

Schlimme Geschichten von Gestern und Heute

Regina Scheer verknüpft ihre Geschichten mit der Geschichte des Hauses, sie erzählt von Gertruds Überleben, von den Sinti-Familien, die nirgendwo zu Hause sind, von Ausgrenzung und Zusammenhalt.  Manchmal stehen Scheer wohl ihre eigenen Recherchen im Weg und machen den Erzählfluss zäh. Manchmal will sie zu viel in ihren Roman hineinstopfen: den Mietwucher in Berlin, die Immobilienblase, die mangelnde Integration der Sinti und Roma, die wachsende Fremdenfeindlichkeit heute. Und dazu noch das Gestern mit dem Holocaust und der Duckmäuserei der Menschen unter dem Naziregime. Und als wäre das nicht schon mehr als genug, muss Leo auch noch aus der Gründungszeit des Staats Israel erzählen und Nira einen Neuanfang in Berlin wagen.

Das Märchen von den sieben Leben

Regina Scheers altes Haus steht im Zentrum eines ganzen Geschichten-Kosmos‘. Auch für den Titel gibt es natürlich eine Geschichte, die der Sinto Milan erzählt: Sie handelt von einer schwarzen Katze, die in einem Hof ihre Jungen gebar und von Jugendlichen übel traktiert wird: „Einer der Kerle packte sie sich darauf am Schwanz und ließ sie lachend über seinem Kopf kreisen. ‚Sehr ihr, wie zäh sie sind, diese Zigeuner, sie haben sieben Leben!‘ …Die Unmenschen traten nach ihr, bis es plötzlich zu regnen begann. Der Regen war weich und duftete nach Milch. Die Katze lag reglos und säugte ihre Kinder. Alle hatten schwarze große Augen und wurden nicht nass. Es war keine Wolke zu sehen. Ein heller Himmel weinte, und Gott war erschienen. Gott hatte sich aus Mitleid selbst erschaffen und hob die Kinder auf. Er wollte uns trösten. Gott war der Erste, der wusste, das wir Menschen waren. So kam Gott auf die Welt. Und mit euch kam er auch in den Wedding.“
Info: Regina Scheer. Gott wohnt im Wedding, Penguin, 416 S., 24,70 Euro

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