Der Charme der Revolution

16. August 2023

Steffen Kopetzky schürft gern in der Geschichte und fördert dabei immer wieder Erstaunliches zu Tage. So auch in seinem neuen Roman „Damenopfer“, der in die wilden 1920er Jahre zurückführt, in eine aufregende Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution. Mitten drin Larissa Reissner, das it-Girl der russischen Literaturszene, schön, klug und selbstbewusst.

Madonna der Revolution

Sie ist das „Damenopfer“, so der Titel des Romans, und natürlich auch die Hauptfigur. Wobei man zwischendurch das Gefühl hat, auch Steffen Kopetzky sei der „Madonna der Revolution“, wie Leo Trotzky Larissa Reissner nannte, verfallen. Der Autor kann ihre Schönheit und ihren Geist nicht genug rühmen. Hat sie doch eine Schachpartie gegen einen arroganten Eurasier mit einem „Damenopfer“ gewonnen, das sie von einem alten Kriegsveteranen gelernt hatte.

Gegen die britische Vorherrschaft

Larissa Reissner verkörpert alles, was für viele Männer damals unerträglich war. Sie ist frei und frech, und sie weiß, was sie will. Ob es Männer sind oder die Revolution. Am besten beides. Denn sie ist fest entschlossen, gegen die britische Vorherrschaft, wie sie sie als Botschafterin in Afghanistan kennengelernt hat, zu kämpfen. Das ist ihrer Meinung nach nur möglich durch ein geheimes Bündnis zwischen der Sowjetunion und Deutschland. Und das will sie vermitteln, um jeden Preis.

Verbündete im Geheimen

Steffen Kopetzky ist im Verlauf seiner akribischen Recherchen zum Roman auf die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee gestoßen. Russische Ressourcen und deutsche Know How gingen damals eine geheime Verbindung ein, die dazu führte, dass in Russland Giftgas, Panzer und Luftwaffen entwickelt wurden. Vieles, selbst Unglaubliches, was in dem Buch steht, ist historisch belegt. Wohl auch das Beziehungsgeflecht, das die schöne und lebenslustige Revolutionärin gesponnen hat.

Unbändige Fabulierlust

Aber natürlich gibt es auch im Leben von Larissa Reissner  Leerstellen, die der Autor mit Dichtung ausfüllt. Wenn er über ihre innersten Gedanken schreibt oder über die sehnsüchtigen Begierden ihrer Bewunderer, wenn er ihre Kindheit aufleben oder Pasternak und Babel über die Kunst des Romanschreibens diskutieren lässt. Da kommt dann dem Autor seine ungebändige  Fabulierlust zu Gute.

Komplexe Roman-Montage

Steffen Kopetzky hat aus all dem – aus historischen Tatsachen, Sitzungsprotokollen, Autobiographie und Fiktion – einen vielstimmigen Roman montiert, der den Lesenden durch ständige Perspektiven und Zeitwechel  viel Aufmerksamkeit abverlangt und sie dafür mit überraschenden Einblicken in eine Geschichte belohnt, die bis heute nachwirkt.

Hineingelesen…

… in die Geschichte des Damenopfers

„Könnt ihr denn Schach spielen, ihr Fischlein?“ fragte der (alte Mann) und blinzelte Larissa zu. Goga bejahte, er spielte oft mit seiner Schwester, auch Wadim hatte da schon mitgespielt, nur Daniil wusste nicht, wie es ging, war aber umso beeindruckter, als Larissa sich auf den zweiten, aus Kiefernästen genagelten Hocker setzte und sich vom Seemann zeigen ließ, womit der sich gerade beschäftigt hatte…
„was machen Sie heute, Wladimir Jossepowitsch?“ fragte Larissa vergnügt.
„Na komm, ich will‘s dir zeigen“, sagte der Alte, „spiel mit mir, meine Liebe.“
Er hob bedächtig die Augenbrauen und zog ganz langsam und demonstrativ seinen Turm in die Reichweite eine gegnerischen Bauern.
„Zieh, meine Prinzessin.“
Larissa war zunächst verblüfft. Denn der Anblick einer so wertvollen Figur wie dem Turm in Schlagweite eines Bauern schien vollkommen ungewöhnlich. Dass der Bauer einen Tausch vollzog, dass er einkassierte, das passierte. Aber so etwas! Was für ein Fehler war dem alten Seebären da unterlaufen – also nahm sie, ohne zu zögern, den Turm und freue sich, so eine wertvolle Figur gleichsam geschenkt bekommen zu haben. Die Jungs um sie herum staunten, was Larissa da für einen tollen Zug gemacht hatte. Doch dann musste sie zusehen, wie der schwarze Läufer des lächelnden Wladimir Jossepowitsch nun freie Bahn bekommen hatte, Larissas Dame vor dem König fesselte und im nächsten Zug würde schlagen können.
„Siehst du, mein Schatz, das nennt man Zhertwa. Opfer“, erklärte nun der Alte, „man opfert einen Turm oder eine andere Figur, und dafür verbessert man die eigene Stellung und erzielt durch das Opfer sogar einen Materialvorteil.“
„Ich verstehe, sagte die verblüffte Larissa und ging in Gedanken den Ablauf noch einmal durch.
„Und jetzt passt auf, ihr alle, ich zeige euch ein weiteres Opfer. Das höchste und wirkungsvollste: das Damenopfer. Es hat eine besondere Geschichte.“
Und mit diesen Worten stellte der alte Matrose, der ein Veteran des Schlachtschiffes POTEMKIN war und sich mit seinen Kameraden an der Revolution von 1905 beteiligt hatte, die Figuren zu einer neuen Stellung auf. Während dessen erzählte er ihnen vom bösen Zar Iwan.
„Iwan Grosny – der Schreckliche!“ rief Goga stolz. Er war sehr gut in Geschichte.
„Richtig! Alle Zaren sind Scheusale, die nur an sich denken, das ist ja bekannt. Aber dieser erste Zar war ganz besonders gemein. Er wollte imm mehr und mehr besitzen, und niemand sollte seiner Macht im Wege stehen. Deswegen brachte er jeden um, der ihm gefährlich werden konnte. Sogar…“, der Alte beugte sich nach vorn und sprach langsam und mit zitternder Stimme, „seinen eigenen Sohn hat er umgebracht.“
Den Kindern schauderte, und besonders Daniil, der seinen Vater nicht kannte, fürchtete sich. Ob Väter so etwas öfter taten?
„Iwan, das muss man ihm zumindest lassen, war ein Schachspieler. Aber ein schlechter Charakter zeigte sich auch hier. Niemand wollte mit ihm spielen, denn wenn er nicht gewann, wurde er furchtbar böse. Doch eines Tages kam der Sohn eines armen Bauern zu ihm, der sich geschworen hatte, den bösen Zaren zu besiegen.“
Der alte Bootsmann war ein vorzüglicher Darsteller.
„Jawoll“, rief Goga, „nieder mit dem Zaren!“
„Der tapfere Bauerssohn wusste, dass der Zar gierig war und nie genug bekommen konnte. Und so gelang es ihm, diese Stellung auf dem Schachbrett zu erreichen, die ich euch jetzt zeige.“
Der Matrose erklärte den Kindern die Stellung und frage dann: „Seht ihr, wie der Bauerssohn vorgegangen war? Genau in diesem Moment der Stellung hat er die Dame hierhergezogen, seine wertvollste Figur.“
„Und der böse Zar?“
„Er freute sich so sehr, dass er dem Jungen die Dame nehmen konnte, er schlug sie, sehr ihr, und lachte schallend. Hahaha!
Doch dann blieb dem Zaren das Lachen im Halse stecken. Denn e begriff, wie der Bausserssohn ihn in eine Falle gelockt hatte, aus der es kein Entrinnen gab.“
Nun zog der Matrose und demonstrierte, wie der König des Zaren zwingend in die Ecke gedrängt wurde, worauf nach drei Zügen das Matt folgte.
„Als der Zar erkannte, dass seine eigene Gier ihn blind gemacht hatte und dass er gegen den Sohn eines Bauern verloren hatte, wurde er wütend, rasend, ja was sage ich besinnungslos vor Zorn. Er schrie und tobte und zerriss sich das Hemd und seine Wut wurde immer heftiger und heftiger… Bis ihn auf einmal der Schlag traf und er tot auf das Schachbrett niedrstürzte. So hatte der kluge Bauerssohn ihn besiegt, und die Menschen in Russland konten eine Weile in Frieden leben.“

Info  Steffen Kopetzky, Damenopfer, rowohlt berlin, 444 S., 26 Euro

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