Der Dorfnazi ist auch ein Mensch

22. Juli 2021

 

Mit  „Unterleuten“  hat Juli Zeh nicht nur die Kritik überzeugt, sie hat auch einen großen Leserkreis angesprochen. Nun also das Nachfolgebuch „Über Menschen“. Wie „Unterleuten“ spielt auch dieser Roman in der brandenburgischen Provinz, da, wo die Autorin selbst seit vielen Jahren lebt.

Von Corona vertrieben

Im Zentrum steht die Werbetexterin Dora. Sie ist mit ihrer Hündin, die transgendermäßig Jochen der Rochen heißt, nach Bracken gezogen, wo sie ein heruntergekommenes Haus erworben hat. Corona hat Dora aus Berlin vertrieben, hat ihr das Zusammenleben mit ihrem zum Greta-Thunberg-Jünger und rechthaberischen Corona-Moralisten mutierten Freund vermiest. Nun will sie in Bracken Fuß fassen, lernen von dem zu leben, was das Land hergibt.

Spiel mit Klischees

Hin und wieder wird man bei der Lektüre dieses neuen Dorfromans an das Motiv der edlen Wilden erinnert. Nur eines von vielen Klischees, mit denen Juli Zeh in „Über Menschen“ spielt. Auch der Nachbar, der sich über die Gartenmauer mit „Ich bin hier der Dorfnazi“ vorstellt, wirkt wie ein Klischee.  Doch Juli Zeh ist eine viel zu versierte Autorin, um es bei solcher Typisierung zu belassen. Was am Anfang so eindeutig erscheint, wird bald in Frage gestellt.

Angst vor der Wahrheit

Der Nazi Gote erweist sich als fürsorglicher Nachbar und später als hilfsbedürftiger Mitmensch. Und für sein Töchterchen entwickelt Dora fast schon mütterliche Gefühle. Doch Gote bleibt trotz allem ein Horst-Wessel-Lied singender und Schwule hassender Nazi. Dass er unter einem lebensbedrohlichen Hirntumor leidet, von Doras  medizinisch versiertem Vater „Raumforderung“ genannt, will er nicht wahrhaben. Genauso wenig wie der mit seinem schwulen Freund zusammenlebende Kabarettist die Homosexuellen-Feindlichkeit der AfD wahrhaben will.

Wider die Vorurteile

Doras Weltbild gerät angesichts solcher unübersichtlichen dörflichen Verhältnisse ins Wanken. „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen“, erklärt der schwule Tom. Dora muss ihre Vorurteile überwinden wie sie die trennende Gartenmauer – schon wieder eine Metapher – überwindet. Juli Zeh wechselt in diesem Roman nicht die Perspektive, sie bleibt dicht dran an ihrer Dora und dem Dorf, in dem aus der Not eine – integrative – Gemeinschaft entsteht.

Optimistische Weltsicht

Bracken wird keine Idylle werden, aber ein Ort zum Überleben in schwierigen Zeiten. Das ist vielleicht etwas zu viel des Guten, aber Juli Zeh gelingt es, diesen Optimismus nachvollziehbar zu machen.

Hineingelesen…

… in einen Einkauf mit Gote

Brackener Hamsterkäufe,denkt Dora. Rasendünger und Bohrschrauber statt Nudeln und Klopapier. Das Tragen einer Maske ist wohl unter der Würde des homo brackensis. Dora wartet auf eine Erklärung, warum sie mitfahren muss. Aber es kommt nichts. Auch keine Auslassung dazu, dass Angela Merkel und Bill Gates der Weltbevölkerung Mikrochips unter die Haut spritzen wollen. Oder dass das Virus nur eine Form von natürlicher Auslese darstellt, durch die der Volkskörper von Schwächlingen gereinigt wird. Gote schweigt und schaut auf die Straße.
„Wie alt ist Franzi eigentlich?“ nimmt Dora das Gespräch wieder auf.
„Kannst du ruhig sein? Ich muss lenken.“
Falls sie jemals einen Lehrmeister im Kampf gegen das Multitasking sucht, wäre Gote der richtige Mann. Lenkrad festhalten. Gas geben. Mehr nicht.
Da Gote auf der Plausitzer Landstraße konstant 120km/h fährt und nur innerhalb geschlossener Ortschaften auf 80 km/h ausrollen lässt, kommt das Elbe Center schnell in Sicht. Gote parkt ein und wartet nicht, bis seine Mitfahrerin aus dem Wagen geklettert ist, sondern geht einfach voran zu den Drehtüren…
… Dora folgt Gotes breitem Rücken durch die Baumarktgänge und fragt sich, ob die anderen Kunden sie beide für eine Ehepaar halten. Tatsächlich passen sie an diesem Vormittag gut zusammen. Beide in fleckigen T-Shirts, beide ungewaschen, in Doras Fall überdies ungekämmt und ungefrühstückt. Die Art, wie Gote sich nicht darum kümmert, ob Dora ihm folgt, spricht ebenfalls für eine langjährige Ehe. Die Idee besitzt einen merkwürdigen Reiz. Ein anderes Leben. Das berauschende Gefühl von Freiheit, das sich einstellt, wenn man beschlossen hat, auf alles zu scheißen.
Als Gote stehen bleibt, läuft sie fast auf ihn auf. Sie sind im Wandfarben-Gang. Gote schaut in die Regale, wobei er die Stirn runzelt, als ob er etwas im Kopf berechnen würde. Schließlich zieht er sechs große Eimer heraus. Weiß, für Innenräume, mittlere Qualität. Er dreht sich zu ihr um.
„Oder willst du ne andere Farbe?“
Erschrocken schüttelt Dora den Kopf. Sie will gar keine Farbe. Sie will das alles nicht. Aber Gote ist schon wieder losgegegangen. Richtung Kasse. Wenn sie jetzt versucht, ihm die Farbeimer wegzunehmen, gibt es eine Szene. Was hat sie gestern gerufen? „Ich brauche keine Möbel. Es sind ja nicht mal die Wände gestrichen.“ Gote hat die Wandfläche ihrer Zimmer im Kopf ausgerechnet. Er trägt in jeder Hand drei Zehn-Liter-Eimer. Dora greift in die hintere Tasche ihrer Jeans. Gott sei Dank hat sie ihr Portemonnaie eingesteckt.
Als Gote kurz vor den Kassen wieder stehen bleibt, läuft Dora tatsächlich in ihn hinein. Es fühlt sich an, als prallte sie gegen eine gepolsterte Wand… Gote schwankt keinen Zentimeter.
„Die sind aber schön.“ Er deutet auf ein pyramidenförmiges Regal, auf dem große Blumentöpfe für eine Rabattaktion werden. Die meisten sind mit Hortensien bepflanzt, deren schaumige Blütenstände in Pastelltönen leuchten.
„Stark reduziert“, sagt er. „Nimm gleich zwei.“
Horst Wessel und Hortensien. Könnte der Anfang eines dadaistischen Gedichts sein. Natürlich steht nirgendwo geschrieben, dass Neonazis keine Hortensien mögen. Komisch ist es trotzdem. Eine Bedrohung des lebenswichtigen Irrtums, man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten.

Info  Juli Zeh. Über Menschen, Luchterhand, 412 S., 22 Euro

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