Im Fadenkreuz der Erinnerung

23. August 2021

Alex Schulman hat sich von eigenen Kindheitserinnerungen zu dem Roman „Die Überlebenden“ inspirieren lassen. In Schweden war das Buch wochenlang die Nummer 1. Bei dtv ist die Herz zerreißende Geschichte dreier Brüder der Spitzentitel im Herbstprogramm. Sie haben sich auseinander gelebt, die Brüder Benjamin, Pierre und Nils. Dabei haben sie im Sommerhaus ihrer Kindheit alles miteinander geteilt. Vor allem Pierre und Benjamin waren unzertrennlich. Was ist passiert, fragt sich Benjamin, was hat die Familie zerstört?

Rückkehr ins Sommerhaus

Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder zum Sommerhaus zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Die Rückkehr in die raue Natur wird zu einer Reise durch die Zeit. Benjamin erkennt alles wieder, jeden Stein, jeden Baum. Er trägt den Wald in sich. Und er erinnert sich – an die Umspannstation und das Summen des Stroms. Es sind fragmentierte Erinnerungen an einen Unfall, seinen Unfall, der alles verändert hat.

Bruchstücke der Erinnerung

Seitdem ist das Leben der Eltern aus der Bahn gesprungen, hat übermäßiger Alkoholgenuss den Verstand der Mutter vernebelt und ganz allmählich die Familie zerstört. Im Kampf um die mütterliche Liebe wurden die Söhne zu Rivalen, die sich gegenseitig belauerten. Das haben sie bis heute nicht vergessen. Immer wieder bricht sich unter den Dreien Gewalt Bahn. Das gegenseitige Misstrauen ist längst nicht überwunden. Es ist ihnen nicht gelungen, die unterschiedlichen Bruchstücke ihrer Erinnerungen zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Auch nicht am Totenbett der Mutter.

Das Schweigen des Vaters

Auch die Lesenden müssen genau hinschauen, was zwischen den Zeiten passiert, müssen Worte und Taten hinterfragen. Was war es, das die Brüder zu dem gemacht hat, was sie heute sind? Vielleicht hätte sein Vater Benjamin eine Antwort auf diese Frage geben können. „Doch sie redeten nicht über Dinge, die passiert waren, das hatten sie noch nie getan, weil keiner von ihnen wusste, wie das ging, und vielleicht war es auch nicht nötig, vielleicht war dieses Schweigen das Schönste, was sie gemeinsam erleben konnten.“

Frühes Ausrufezeichen

Alex Schulman hat einen hoch-emotionalen Roman geschrieben, wild und schockierend aber auch voller Empathie. Schon früh setzt er ein metaphorisches Ausrufezeichen – als Pierre einen Fisch lebendig braten will und Benjamin das Ganze zu Ende bringt. Eine grausige Szene, die sich ins Gedächtnis brennt und deren Bedeutung erst am Schluss klar wird.

Hineingelesen…

… in Benjamins Gedanken

Er wird diesen Tag nicht überstehen, wenn er nicht schläft. Er wird es nicht schaffen. Dabei weiß er endlich, was er tun muss: Er muss mit seinen Brüdern über die Dinge sprechen, an die sie seit zwanzig Jahren nicht gerührt haben. Er dreht das Kissen um und legt sich auf die andere Seite. Erblickt das gerahmte Foto von ihnen dreien, das auf dem Nachttisch steht. Es wurde am Ufer des Sees an ihrem Sommerhaus aufgenommen. Benjamin, Pierre und Nils, Sonne im Haar, in Unterhosen und Gummistiefeln, ihre braungebrannten Kinderkörper. Klare Farben, orange Schwimmwesten vor einem leuchtend blauen Himmel. Sie wollten das Netz auslegen. Benjamin steht in der Mitte, einen Arm um den Nacken jeweils eines seiner Brüder gelegt. Ihre Körper wirken frei, entspannt. Sie lachen über irgendetwas. Nicht wegen des Fotos, sie lachen über etwas anderes, als hätte ihr Vater kurz vorm Abdrücken etwas Lustiges gesagt, um sie aus der Reserve zu locken. Sie lachen aus voller Brust. Sie halten sich im Arm. Sie leuchten von innen, er uns seine Brüder.
Was ist bloß mit ihnen geschehen?
Dieser Moment, nachdem Mama gerade gestorben war. Sie waren alle da, sie waren zusammen im Krankenhaus, und dennoch allein. Den ganzen Vormittag über haben sie einander kein einziges Mal in den Arm genommen. Nils zog nur die Kamera heraus und machte Fotos von ihrer Mutter. Pierre ging über den Flug auf einen Balkon um zu rauchen. Und er selbst blieb mitten im Raum stehen. Und dann ging er, ohne sich zu verabschieden. Sie konnten einander nicht helfen, und so ist es schon immer gewesen, seit sie erwachsen sind.“

Info Alex Schulman. Die Überlebenden, aus dem Schwedischen von Hanna Granz, dtv, 304 S., 22 Euro

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