Kurz vor dem Verhungern

23. Juni 2025

Dacia Maraini ist eine der wichtigsten Schriftstellerin Italiens, und sie hat lange gewartet, bis sie dieses Buch über die Schrecken ihrer frühen Kindheit geschrieben hat: „Ein halber Löffel Reis“. Sie habe immer wieder angefangen, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, hat Maraini in Interviews gesagt, aber es sei zu schmerzhaft gewesen, „wie eine Wunde, die nie verheilt war“. Aber angesichts der faschistischen Tendenzen weltweit habe sie die Notwendigkeit erkannt, über das Leben im Krieg Zeugnis abzulegen.

Eine Frage der Moral

Sie war sieben Jahre alt und lebte mit ihren Eltern und zwei Schwestern in Japan, als die Familie interniert wurde. Denn ihre Eltern hatten sich geweigert, 1943 eine Art Treue-Eid auf Mussolini zu unterschreiben, wie es die faschistische Regierung Italiens verlangte. Noch heute ist Maraini trotz ihrer schlimmen Erfahrungen überzeugt davon, dass diese Entscheidung richtig war. „Eine Frage von Ethik und Moral“, sagt sie.

Feindliche Ausländer

Als „feindliche Ausländer“ wurde die Familie in ein Lager in Nagoya gesteckt. Kein Tötungslager, aber eines, in dem die Insassen täglich am Rand des Verhungerns waren. Für die Kinder gab es keine Extra-Portion. Die Erwachsenen mussten ihnen einen halben Löffel Reis von ihrer Ration abgeben. Und das, obwohl die japanische Regierung wohl ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stellte. Die allerdings wurden, so erinnert sich Dacia Maraini, von den Wachen konfisziert. Ebenso wie die – seltenen – Geschenke.

Der abehackte Finger

Die Internierten und vor allem die Kinder waren krank vor Hunger. Sie aßen selbst von Fäkalien verunreinigte Abfälle. Letztlich rettete wohl der Vater das Leben seiner Kinder, indem er sich in Samurai-Tradition einen Finger abhackte. So bekam die Familie eine kleine Ziege, dank deren Milch sie überlebte. Die Befreiung durch die amerikanischen Soldaten, die wirkten „als seien sie aus dem Himmel herabgestiegen und von einem väterlichen Gotte gesegnet, als brächten sie einen geheimnnisvollen Zauber mit, der sie leicht und strahlend werden ließ“ nimmt Maraini zum Anlass über die Folgen des Sieges nachzudenken.

Liebe zu Japan

Immer wieder kommt sie in ihren Erinnerungen auch auf die Gegenwart zu sprechen, auf die Zukunft Europas und ihre Liebe zu Japan: „Viele meinen, ich müsste dieses Land, das mich vernichten wollte, hassen, aber so ist es nicht. Ich liebe Japan und die Japaner, weil ich selbst im Lager Freundlichkeit, Großzügigkeit und Solidarität der einfachen Leute kennengelernt habe, auch wenn ich unter dem Sadismus, dem Wahnsinn des Nationalismus und der rassistischen Verachtung der Wächter gelitten habe.“

Die faschistische Gefahr

Dacia Maraini sieht ihre Erinnerungen, die sie aus der Perspektive der Siebenjährigen erzählt, als Mahnung, als Warnung vor aktuellen faschistischen Tendenzen. Die teilweise drastischen Erzählungen zeigen, wohin Faschismus und Rassismus führen können.  Schon deshalb ist „Ein halber Löffel Reis“ ein wichtiges Buch.

Info. Dacia Maraini, Ein halber Löffel Reise, folio,234 S., 25 Euro

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