Lehren vom Berg

22. April 2021

Auf den Bergen lebt die Freiheit. Vom Berg herab wirkt die Welt anders, kleiner. Die Alltagsprobleme relativieren sich. Nicht nur deshalb hat sich der zum Menschenfeind gewordene Ich-Erzähler in Ivica Prtenjacas Roman „Der Berg“ für eine Auszeit als Brandwächter in einer Karaule (Wachhütte) auf einer kroatischen Insel entschieden.

Ekel an der Zivilisation

Die Kunst- und Verlagsszene mit ihren Eitelkeiten und Intrigen ekelt ihn an, die Menschen ekeln ihn an. Wohl fühlt er sich allein in Gesellschaft des altersschwachen Esels Visconti und später auch einer herrenlosen Hündin. Er erinnert sich an Ereignisse in seiner Kindheit, denkt über sein Leben nach. Weitab der Zivilisation, die er durch sein Fernglas, das er Auge nennt, beobachtet, versucht der Mann, wieder Tritt zu finden in seinem Leben.

Begegnungen am Berg

Die ewig gleichen Rundgänge am Berg haben etwas Meditatives. Die Begegnungen mit den Einheimischen und ihren Tragödien erden ihn. Doch am Berg muss er sich auch mit Touristen auseinandersetzen, mit verirrten Bikern, seltsamen Sinnsuchern und modernen Pilgern.

Lob der Einsamkeit

Trotzdem ist seine Einsamkeit umfassend, sie macht ihn zu einem neuen Menschen: „Meine Einsamkeit berauscht mich geradezu. Ich bin eins geworden mit diesem Berg, mit der Karaule, mit dem Wald,den Wegen und den Tieren. Ich befinde mich in einem leeren Raum jenseits von Zeit und denken, in ihm habe ich mein Spiegelbild, meinen Schatten und meine Seinsweise gefunden. Ich gehe, wie ein freier Mensch geht, auf einer breiten, leeren Straße.“

Die Last der Erinnerung

Am Ende muss er den treuen Esel begraben. Nur die Hündin begleitet ihn auf dem Weg zurück in seinen Alltag. Auch die Karaule wird verschwinden, Platz machen für eine von Touristen geprägte Zukunft.
Ivica Prtenjacas namenloser Ich-Erzähler ist keiner, der die Leser-Herzen im Sturm erobert. Zu groß ist seine Misanthropie. Und doch gelingt es ihm, Empathie zu wecken. Mitgefühl mit Menschen, die vom Krieg traumatisiert sind. Und mit einem Esel, der die ganze Last dieser Erinnerungen zu tragen scheint. Ein zutiefst berührender Roman.

 

Hineingelesen…

… in die Gedankenwelt des Erzählers

„Ich habe keine Fragen gestellt, ich habe gerade noch meinen Namen stottern können, es kommt, wie es kommen soll, denke ich. Ich weiß nicht, wohin mit dem tödlichen Schweigen, mit dem Verstummen, zu dem sich meine Menschenverachtung und Weltmüdigkeit quälend ausgewachsen haben. Ich kann nicht mehr unter den Menschen sein, ich habe das Gefühl, als rissen sie mir das Fleisch von den Knochen, als fräßen sie mich mit ihren unaufhörlichen Reden und Fragen. Sie belagern mich, sie verlangen etwas, was ihnen nicht zusteht und was ich ihnen nicht geben kann. In ihren schwächlichen Körpern sind sie durch die Bank großartige Künstler, Autoren, wichtige Journalisten, prägende politische Persönlichkeiten und irisierende Verführer der Unterhaltungsbranche. Alle haben sie für sich das Geheimnis des Lebens, des Glücks und des Erfolgs entdeckt. Wozu brauchen sie da mich? Wozu brauchen sie überhaupt all diese Auftritte und diese mühsam getippten Bücher, die sie mir auf den Tisch legen, damit ich ihnen eine Karriere verschaffe, damit ich sie ins Fernsehen bringe, vor die Kamera, die ihretwegen vor Langeweile stirbt… Diese aufdringlich lächelnde Liebenswürdigkeit, mit der sie an mich herantreten, ist mir unerträglich geworden.“

Info: Ivica Prtenjaca. Der Berg, Folio, 158 S., 22 Euro

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