Schmerzhafte Grenzüberschreitung

3. Februar 2020

Der Defekt ist am Anfang nur für sie spürbar.  Aber Vetko  scheint  mehr zu wissen als andere. Sie müsse sich fügen, sagt der seltsame Junge  zu Mina. 16 Jahre ist sie alt, als sie dem 18-jährigen Einzelgänger näher kommt. Da erschießt Vetko seinen Hund vor ihren Augen. Mina ist schockiert – und fasziniert. Und ganz allmählich erkennt sie, dass sie anders ist als ihre Mitschüler, anders als ihre beste Freundin und ihre Eltern. Leona Stahlmann beschreibt in ihrem Roman  Der Defekt  die Suche Minas nach ihrer Identität, nach dem, was sie befriedigt.

Erinnerung in Narben und blauen Flecken

Es ist etwas anderes als normaler Geschlechtsverkehr, das weiß sie. Und es ist etwas, das sie immer wieder erleben will. Ein Einverständnis, das zwei Menschen zu einer Einheit schmiedet. Und Vetko gibt den Takt vor: „Mit jeder Narbe, jedem blauen Fleck kannst du die Zeit dehnen,“ sagte er zum Abschied. „Wie lang dauert durchschnittlicher Sex, fünfzehn Minuten? Wir hören nie auf damit, solang unsere Körper sich erinnern, eine Narbe von mir auf dir, und du wirst noch in zehn Jahren mit mir schlafen, wenn du sie ansiehst.“

Süchtig nach Gehorsam

Mina weiß, dass sie und Vetko Grenzen überschreiten – und sie ist süchtig danach: „Minas Lieben war weder gleich- noch gegengeschlechtlich, es war geschlechtslos. Es verhandelte einen Gegenstand, der nicht in den Geschlechtsteilen saß: Macht und Disziplin, Befehl und Gehorsam, Schmerz und Ohnmacht saßen im Kopf.“ Mit „normalem“ Sex findet Mina keine Befriedigung, auch nicht mit „Lustschmerz-Erfahrungen“ bei Sado-Maso-Partys. Es ist etwas anderes, was sie sucht. Und nur Vetko weiß, dass sie sich fügen will, gehorsam sein, dominiert werden.

Schmerz und Unterwerfung

Es ist kein einfaches Thema, das Leona Stahlmann sich und ihren Lesern zumutet. Diese ungeheuerliche „Liebe“ bettet sie in in eine oft überbordend sinnlich beschriebene Natur: „Ein Himmel wie ein Mord über dem Wald, als Mina den Wecker hört: Der Morgen blutet sich aus dem Nachtschlaf und in die Fichten, die Tannen, die Mammutbäume, die Obstbäume, die schläfrig sich hebenden Stachelhaare der Prozessionsspinner an den Stämmen.“ Es ist auch diese mörderische Natur, die das Verhältnis zwischen Mina und Vetko bestimmt. Die Brennesseln, die schmerzhafte Blasen auf Minas Händen hinterlassen, die Stoppeln auf den abgeernteten Feldern, die sich in ihre nackten Knie drücken. Der Schmerz und die Unterwerfung, die ihr Freude bereiten.

Suche nach Selbstauslöschung

Ein Defekt? „Irgendwo in einem ebenmäßigen Zellteppich aus Kohl und Brot und den Zellen der Großeltern und ihren Müttern und Vätern und deren Müttern und Vätern war eine Mutation entstanden. Sie sorgte dafür, dass Mina Wunde und Weinen suchte und nicht das, was die anderen zärtlich fanden und sie einander ausziehen ließ. Während die anderen Selbsterneuerung zwischen Spitzenunterwäsche fanden, sanft verschlungen ineinander, sucht Mina Selbstauslöschung: einen Messerangriff auf alle ihre Zellen, einen Faustkampf um das Unbestimmte…“
Dieser Roman ist selbst eine Grenzüberschreitung, schmerzhaft und verstörend.
Info: Leona Stahlmann. Der Defekt, Kein und Aber, 270 S., 22 Euro

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