Leben und Lieben im Brexit-Land

3. Februar 2020

Sie sind ganz normale Bürger in mittleren Jahren und sie leben in den englischen Midlands, da, wo man auch Tolkiens Hobbits verorten könnte. Der lange glücklose Autor Benjamin Trotter, seine Schwester Lois, seine Freund Doug, ein linker Journalist, und Philip, ein Kleinverleger. Jonathan Coe hat über diesen Personenkreis schon öfter geschrieben, etwa 2001 in „The Rotters Club“. Doch „Middle England“, der Roman, den die englische Kritik als „Brexit-Roman“ einstufte, ist anders. „Dies ist ein Buch, das die Gegenwart voraussagt“, urteilte der Guardian.

Miese Stimmung im Land

Tatsächlich setzt die Handlung 2010 ein, als Cameron mit den Liberaldemokraten die erste Koalition in Großbritannien seit Generationen schmiedete. Die Leser werden Zeugen der Londoner Unruhen und der Ermordung der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox. Sie erleben eine kurze Hochstimmung während der Olympischen Spiele und die Anti-Migranten-Hetze des Nigel Farage. Die Stimmung im Land ist mies, wie Doug feststellt: „Die Leute sind mittlerweile so sauer, und niemand weiß, was man dagegen tun kann. .. Die Wähler sehen diese Typen in der City, die vor zwei Jahren praktisch die Wirtschaft zerstört haben und dafür nie irgendwie belangt worden sind – keiner von ihnen ist in den Knast gewandert, und jetzt streichen alle wieder ihren Bonus ein, während die anderen den Gürtel enger schnallen sollen. Die Gehälter sind eingefroren. Die Leute haben keine sicheren Arbeitsplätze, keine Altersvorsorge, sie können sich keinen Familienurlaub leisten und ihr Autor nicht reparieren lassen. Vor ein paar Jahren haben sie sich noch wohlhabend gefühlt. Jetzt fühlen sie sich arm.“

Bis hinein ins Kleine-Leute-Milieu

Benjamins vorwiegend akademischer Freundeskreis ist anders, hat kaum finanzielle Sorgen. Aber über Bens Nichte Sophie, eine Uni-Dozentin, die einen Fahrlehrer heiratet, nähert sich der Roman dem „Kleine-Leute-Milieu“, den Leuten, die gerne den Satz „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ im Mund führen. Für das andere Extrem steht Coriander, Dougs widerspenstige Tochter, die rigoros alles bekämpft, was ihr nicht gender-konform oder politisch korrekt erscheint.
Im Nukleus der Familie und des Freundeskreises und aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt Coe, wie sich die Gesellschaft verändert.

Camerons Hinterlassenschaft – ein Fiasko

Der wendige Cameron-Vertraute Nigel, Dougs Politik-Quelle, zieht eine bitterböse Bilanz der Regierung: „Schau dir doch an, was für ein Fiasko er hinterlassen hat. Alle gehen sich gegenseitig an die Gurgel. Ausländer werden auf der Straße angepöbelt. Im Bus werden sie angegriffen und beschimpft, sie sollten dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind…Cameron hat das Land ruiniert… und sich aus dem Staub gemacht.“
Das EU-Referendum bringt die längst vorhandene Spaltung, die oft mitten durch die Familien geht, an den Tag – wie in Sophies Ehe: „Rational betrachtet erschien der Auslöser für ihre Trennung von Ian verrückt. Es gab alle möglichen Gründe, weshalb Paare auseinander gingen: Untreue, Gehässigkeit, häusliche Gewalt, sexuelles Desinteresse. Aber unterschiedliche Ansichten darüber, ob Großbritannien in der EU bleiben sollte oder nicht? Das schien absurd zu sein. Es war absurd. Aber tief drinnen wusste Sophie, dass das nicht der eigentlich Grund gewesen war, sondern eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.“

Die Hintergründe des Brexit

Das lange für seine Fairness und Toleranz gerühmte Empire ist zerbrochen. Sprachlosigkeit und Hass regieren. Jonathan Coe versucht in seinem vielschichtigen Roman zu erklären, wie das passieren konnte. Dass die fast 500 Seiten sich so leicht lesen, liegt am Talent des Autors, auch komplizierte Zusammenhänge leicht verständlich zu machen und an seinem immer wieder aufblitzenden britischen Humor. Sein Roman trägt mit Sicherheit dazu bei, die Hintergründe des Brexit besser zu verstehen. Und er macht Angst – vor Deutschlands Zukunft.
Info: Jonathan Coe, Middle England, Folio, 480 S., 25 Euro

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