Literarische Abgründe

10. November 2020

Guillaume Musso gehört in Frankreich zu den meist gelesenen Autoren. Auch in Deutschland hat der studierte Gymnasiallehrer viele Fans. Mit seinem Roman, der den irreführenden Titel „Ein Wort, um dich zu retten“ trägt, wird er diese Fans eher überraschen. Denn der Roman – zugleich Liebesgeschichte, Thriller und Reflexion übers Schreiben und Lesen – ist eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit den Lesern.

Das geheime Leben der Schriftsteller

Der französische Titel „La vie secrète des écrivains“ (Das geheime Leben der Schriftsteller) lässt eher ahnen, worum es geht: Um literarische Abgründe.  Guillaume Musso zitiert berühmte Schriftstellerkollegen, lässt sich aus über den Unterschied von „guter Literatur“ und Unterhaltungsromanen und reflektiert über das schwere Leben eines Autors. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein einst erfolgreicher Autor, der sich plötzlich aus dem öffentlichen Leben auf eine kleine Insel zurückgezogen und sich seither auch nicht mehr zu Wort gemeldet hat.

Zweierlei Spurensuche

Ist dieser Nathan Fawles ein Menschenfeind? Der junge Raphael Bataille, der selbst literarische Ambitionen hat, will dem Geheimnis um sein Idol auf den Grund gehen und verdingt sich aus diesem Grund als Gehilfe in der Insel-Buchhandlung. Fast zeitgleich kommt auch die junge Journalistin Mathilde Monney auf die Insel – ganz offensichtlich mit dem Plan, Fawles Vergangenheit zu erforschen. Und dann geschieht ein grausamer Mord – und die Dinge geraten in Bewegung. Allerdings anders als Raphael und Mathilde geplant hatten…

Spagat zwischen Realität und Fiktion

Die Geschichte, die so harmlos begonnen hat, entwickelt sich zu einem veritablen Thriller, der nach zwei Dritteln auch noch seinen Erzähler verliert. Ein neuer Schriftsteller-Eleve tritt in Raphaels Fußstapfen und übernimmt die Auflösung. Ein gewagter Spagat zwischen Realität und Fiktion.

Hineingelesen…

… in den Insel-Buchladen

Als hätte er meine Gedanken gelesen, erkllärte Audibert:
„la Rose Ecarlate gibt es seit 1967. Heute sieht man es der Buchhandlung nicht mehr an, aber sie war früher einmal eine echte Institution. Viele französische und ausländische Autoren kamen hierher, um Lesungen oder Signierstunden abzuhalten.“
Aus einer Schublade holte er sein in Leder gebundenes Gästebuch und reichte es mir zum Durchblättern. Auf en Totos erkannt ich tatsächlich Michel Tournier, Jean-Marie Gustave Le Clézio, Francoise Sagen, Jean d‘Ormesson, John Irving, John Le Caré und … Nathan Fawles.
„Sie wollen die Buchhandlung wirklich schießen?“
Ohne Bedauern“, bestätigte er. „Die Leute lesen nicht mehr, es ist einfach so.“
Ich differenzierte:
„Die Leute lesen vielleicht anders, aber sie lesen noch immer.“
Audibert schaltete die Kochplatte unter der zischenden Espressokanne aus.
„Kurz und gut. Sie verstehen schon, was ich sagen will. Ich spreche nicht von Unterhaltungsliteratur, ich spreche von echter Literatur.“
Natürlich, die berühmte ‚echte Literatur“… Bei Menschen wie Audibert kam immer irgendwann der Moment, wo dieser Ausdruck – oder der des ‚echten Schriftstellers‘ – als Argument diente. Ich hingegen hatte niemals irgendjemandem das Recht erteilt, mir zu sagen, was ich lesen sollte oder nicht. Diese Art, sich zum Richter zu erheben, um zu entscheiden, was Literatur ist und was nicht, erschien mir grenzenlos anmaßend.
„Kenn Sie in ihrem Umfeld viele echte Leser?“, regte sich der Buchhändler auf. 2Ich meine, intelligente Leser, die dem Lesen ernsthafter Bücher nennenswert viel Zeit widmet.“
Ohne meine Antwort abzuwarten, ereiferte er sich weiter:
„Unter uns gesagt, wie viele echte Leser gibt es in Frankreich noch? Zehntausend? Fünftausend? Vielleicht sogar weniger.“
„Ich finde, Sie sind sehr pessimistisch.“
„Aber nein! Man muss sich damit abfinden. Wir betreten eine literarische Wüste. Heute will zwar jeder Schriftsteller sein, aber niemand liest.“

Info: Guillaume Musso.  Ein Wort, um dich zu retten, Piper,325 S., 16,99 Euro

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