Spannung mit Schach

24. Juni 2021

Das Damengambit: Von der Serie zurück zum Buch. Sechs Teile waren für die Netflix-Serie geplant – sieben wurden es. Zu spannend war es, zu sehen, wie die Waise Beth Harmon auf dem Schachbrett reihenweise Männer mattsetzt. Schach als Thriller? Für passionierte Schachspieler keine Frage. Aber auch Menschen mit wenig oder keiner Schach-Erfahrung folgten gebannt dem Aufstieg der Schachspielerin Elizabeth vom Keller des Waisenhauses bis nach Las Vegas und ihrem Siegeszug in Moskau.

Lesend in die Schachwelt eintauchen

Wer die Serie nicht gesehen oder wenig Lust auf Streaming hat, kann sich auch lesend in die Welt des Damengambits hineinversetzen. Denn Diogenes hat die Romanvorlage des Amerikaners Walter Tevis von vor knapp 40 Jahren neu aufgelegt. Die Parallelen zwischen dem an Lungenkrebs verstorbenen Autor und seiner Protagonistin kommen nicht von ungefähr. „Ich habe mich von meinen Ängsten befreit, indem ich mich in die Sicherheit, die Schach mir bot, zurückgezogen habe“, soll Tevis beim Erscheinen seines Romans gesagt haben.

Suchterfahrungen im Waisenhaus

Wie Beth war er jahrelang alkoholkrank, obwohl er als Autor durchaus erfolgreich war. Mit seinen Romanen „Haie der Großstadt“ und „Die Farbe des Geldes“(beide verfilmt mit Paul Newman) hatte er sich international einen Namen gemacht. Beths Abhängigkeit von Drogen und ihren Absturz in den Alkoholismus konnte er so glaubhaft schildern. Verantwortlich für die Sucht des Schachgenies ist in seinem Roman das Waisenhaus, in dem die Kinder mit Tabletten ruhig gestellt werden.

Chemische Seligkeit

Die grünen Pillen ermöglichen dem Mädchen kleine Fluchten aus dem Waisenhaus-Alltag wie sonst nur das Schachspiel. „Es war ein herrliches Gefühl, das dann in ihr aufbrandete, ein süßes Behagen im Bauch, und alles, was an ihrem Körper steif war, löste sich nach und nach. Sie blieb so lange wach wie nur möglich, um die Wärme in sich auszukosten, diese tiefe chemische Seligkeit.“

Unglaublich spannend

Bis zu ihrem Erfolg muss Beth durch eine harte Schule gehen und neben den Gegner auch die eigenen Dämonen besiegen. All das schildert Tevis eindringlich. Doch den noch größeren Raum nimmt die Beschreibung der Schachpartien ein. Unglaublich, dass selbst für Nicht-Schachspieler dieses Buch von einer schier elektrisierenden Spannung ist.

Hineingelesen…

… in Beth‘s erste Turniererfahrung

Überraschend war, wie schlecht sie spielten. Allesamt. Schon in den ersten Partien ihres Lebens hatte sie mehr begriffen als diese Jungen hier. Überall ließen sie rückständige Bauern zu und ermöglichten ihr andauernd Gabeln.
Einige versuchten sich an primitiven Mattangriffen, die verscheuchte sie wie lästige Fliegen. Sie ging entschlossen von Brett zu Brett, mit ruhigem Magen und sicherer Hand. An jedem Brett brauchte sie nur wenige Sekunden, um die Stellung zu erfassen und zu sehen, was zu tun war. Ihre Reaktionen waren schnell, sicher und tödlich. Charles Levy war angeblich der Beste von ihnen, doch schnürte sie seine Figuren in einem Dutzend Zügen unrettbar ein, und sechs Züge später setzte sie ihn auf der Grund reihe mit einer Springer-Turm-Kombination matt.
Ihr Verstand leuchtet, und ihre Seele sang im süßen Takt der Schachzüge. Im Klassenzimmer roch es nach Kreidestaub, und ihre Schuhe quietschten, als sie die Reihe der Spieler abging. Es war still im Raum; sie konnte ihre eigene Präsenz im Raum spüren, klein und kompakt und gebieterisch. Draußen zwitscherten Vögel, doch die hörte sie nicht. Drinnen starrten manche Schüler sie geradezu an. Jungs kamen aus dem Korridor herein und stellten sich an der Wand auf, um das unscheinbare Mädchen aus dem Waisenhaus am Stadtrand zu sehen, das von Gegner zu Gegner schritt, entschlossen wie Caesar auf einem Feldzug, sicher wie eine Anna Pawlowa im Rampenlicht. Ein gutes Dutzend Schüler schaute zu. Manche grinsten oder gähnten, andere aber fühlten die Energie im Raum, die Gegenwart von etwas, das dieses abgenutzte alte Klassenzimmer in seiner langen Geschichte noch nie gesehen hatte.
Was sie tat, war im Grunde entsetzlich banal, doch für diejenigen, die ein Ohr dafür hatten, knisterte die Energie ihres glasklaren Verstandes förmlich. Ihre Schachzüge blitzten nur so davon. Nach anderthalb Stunden hatte sie alle geschlagen, ohne auch nur einen falschen oder vergeudeten Zug.

Info Walter Tevis. Das Damengambit, Diogenes, 414 S., 24 Euro

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