T.C. Boyle: Abgründe und Visionen

15. Februar 2020

Die Zukunft hat schon begonnen – irgendwann, irgendwie – in diesen Kurzgeschichten von T.C. Boyle. Der Meister der Short Story braucht nur wenige Sätze, um eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen, zu zeigen, wie ohnmächtig wir Menschen der Natur gegenüber sind. „Sind wir nicht Menschen“ ist der Titel dieses Sammelbandes, dem der Amerikaner ein Zitat von Lord Byron voranstellt: „Den Menschen lieb‘ ich, mehr noch die Natur“.

Ameisenplage und Wassermangel

Und diese Natur ist nicht immer menschenfreundlich, schon gar nicht zu Zeiten des Klimawandels. Eine Ameisenplage verdirbt einer jungen Familie die Freude am neuen Haus: „Sie waren überall, diese Ameisen, sie brachen sich in winzigen Wellen an unseren Sandalen, krochen in die Zehenzwischenräume und krabbelten, sobald wir unseren Sohn berührten, in rasender Geschwindigkeit an unseren Händen und Armen hinauf.“ Jahrelange Dürre lässt auch die Liebe eines Paares verdorren: „Wir stritten endlos über die banalsten Kleinigkeiten – wer das letzte saubere Handtuch genommen hatte oder wer das Spülwasser nutzlos in den Abfluss hatte laufen lassen.“

Wiedererleben statt leben

T. C. Boyle ist ein genauer Beobachter, ein hellsichtiger Zeitgenosse und ein grandioser Erzähler. Die über Jahrhunderte unterjochte Natur schlägt zurück – in Gestalt eines Tigers, der im Zoo aus seinem Käfig ausbricht. Und dann sind da auch die möglichen Errungenschaften der Wissenschaft wie designte Tiere (und Babys) oder die Relive Box, die es möglich macht, Vergangenes wieder zu erleben – allerdings ohne einzugreifen. „Wer würde nicht dorthin zurückgehen wollen? Wer würde nicht Unschuld wiedererleben wollen, die ersten Regungen von Liebe und Verlangen…“ Doch das Wiedererleben lässt die Realität schal erscheinen, tötet die Lust am Leben: „Aber es war eine elende Nacht und ich war deprimiert. Und gelangweilt. So gelangweilt, dass man mir Löcher in den Hinterkopf bohren und Gehirnproben hätte entnehmen können, ohne dass ich es gemerkt hätte.“

Lob  des Menschlichen

Zu diesen eher abschreckenden Zukunftsvisionen gesellen sich in dem Sammelband auch Geschichten über langjährige Partnerschaften am Scheideweg, über eitle Autoren, alternde Lehrer und die Vergänglichkeit von Ruhm und Reichtum. Jede Short Story für sich eröffnet ein kleines Universum.  T.C. Boyle lässt die Leser in ausweglose Abgründe blicken, ermutigt sie aber auch, den kleinsten Rest von Glück zu fassen, der sich ihnen bietet. Eine ebenso tröstliche wie aufregende Lektüre. Boyle at his best. Wieder einmal.
Info: T.C. Boyle. Sind wir nicht Menschen, Hanser, 397 S., 23 Euro

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