Road Movie für Heavy Metal Fans
Rezensionen / 21. Januar 2018

Das muss man dem Franzosen Grégoire Hervier schon lassen. Er versteht sein Handwerk und hat sein Thema gründlich recherchiert. Der Roman „Vintage“ dreht sich um Kult-Gitarren und lädt zu einer Zeitreise bis zu den Anfängen der Blues- und Rockmusik, die Hervier bis in die 1920er Jahre zurückdatiert. Das Ganze verpackt in eine kriminalistische Spurensuche, die den Helden, einen mäßig erfolgreichen Pariser Musikstudenten und Journalisten namens Thomas Dupré, über den großen Teich und bis nach Australien führt. Eine Prise Okkultismus und schwarze Magie Der ohnehin schon spannende Roadtrip wird durch Anspielungen auf Okkultes und finstere Machenschaften noch aufregender: „Ich war auf der Suche nach der wertvollsten Gitarre aller Zeiten, einem fluchbeladenen Instrument, das hervorbrachte, was so manchen als Musik des Teufels galt.“ Auch der Auftraggeber dieser Suche, ein angeblicher Lord Winsley, der in einem Landhaus wohnt, das Jimmy Page von Led Zeppelin gehört und in dem der schwarze Magier Aleister Crowley eine Zeitlang als Laird of Boleskine residiert hatte, ist eine zwielichtige Figur. Doch sein Auftrag, den verschollenen Prototyp der „Moderne“, eine wertvollen Gitarre aus dem Hause Gibson, zu finden, ermöglicht Thomas nicht nur eine Weltreise, sondern macht es ihm auch möglich, in die Gründungsmythen der Rockmusik einzutauchen. Der Mythos der…

Vorbei gelebt
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Vier Jahre am Fließband die Drehmaschine überwachen und weitere achtundzwanzig auf einem Gabelstapler – das bin ich… Ein Roboter, kein Mensch. Ein mechanischer Arm, kein Herz.“ Der Ich-Erzähler ist ein älterer Mann, der sein Leben verpasst hat – zuerst in der Fabrik, dann im Gefängnis. Wie es dazu kam, davon erzählt Marco Balzano in dem Roman „Das Leben wartet nicht“. Eine Kindheit in extremer Armut Alles beginnt Ende der Fünfziger Jahre in einem sizilianischen Dorf, wo der kleine Ninetto, so heißt der Erzähler, aufwächst, in extremer Armut. Den Spitznamen Pelleossa, Haut und Knochen, behält er sein Leben lang. Der Kleine ist ein guter Schüler, er hätte womöglich eine bessere Zukunft vor sich; aber nach dem Schlaganfall seiner Mutter schickt ihn der gewalttätige Vater nach Mailand, um Geld zu verdienen. Nach der Strafe ist das Leben ein anderes  Der Bub wurstelt sich so durch, geht mit 15 in die Fabrik, heiratet und wird Vater einer Tochter. Jahre später bringt ihn ein unglücklicher Zwischenfall ins Gefängnis. Als er seine Strafe abgebüßt hat und wieder frei kommt, erkennt er, dass das Leben nicht auf ihn gewartet hat. Seine Tochter hat den Kontakt mit ihm abgebrochen, die Enkelin kennt ihn nicht einmal. Das bittere…

Die Verständnisvolle
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“ Was die Mutter über die kleine Olga gesagt hat, könnte auch für die erwachsene und später die alte Olga gelten. Und doch ist diese scheinbar so angepasste Olga eine starke Frau, eine Frau, die sich durchsetzt gegen alle Widrigkeiten. Olga will nur ihren Herbert  Eine einzige große Liebe gibt es in ihrem Leben: Herbert, der Sohn des Gutsherrn. Die Verbindung ist aussichtslos, denn Olga kommt aus armen Verhältnissen und Herberts Eltern würden sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Und doch überlebt diese Liebe, denn Olga lässt Herbert seine Freiheit und seine Abenteuer, ja sie lässt ihm auch seinen „Herrenstolz“, will nichts wissen vom Schlachtfeld in Namibia und dem Mord an den Herero, will nur ihren Herbert, sein Strahlen, seine Begeisterung. Die Heldenträume enden in der NSDAP Doch dann bricht Herbert auf zu einer Expedition ohne Wiederkehr, und Olga bleibt mit ihren Erinnerungen zurück – und mit dem kleinen Eik, dem sie Herbert als Helden präsentiert – so lange, bis der Junge selbst Heldenträume träumt und in die NSDAP eintritt – gegen Olgas Wunsch und Vorstellung. Aber sie hat bald ohnehin nichts mehr zu sagen, verliert nach einem Fieber ihr Gehör und…

Vom Charme der Normalität
Rezensionen / 21. August 2017

„Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“ Was Bert Brecht über seine Schulzeit geschrieben hat, hätte auch William James Sidis unterschreiben können. Der „Held“ in Klaus Cäsar Zehrers Debütroman „Das Genie“ hat die Schulzeit regelrecht durchlitten. Nicht, weil er über- sondern weil er unterfordert war.  Denn William James war von seinen Eltern, dem ehrgeizigen und ebenfalls genialen Psychologen Boris Sidis und dessen zur Medizinerin promovierten Ehefrau regelrecht zu einem Genie herangezüchtet worden. Dem Überflieger wurde das Wissen der Welt eingetrichtert  Schon im Grundschulalter beherrschte Billy mehrere Sprachen und ließ in Mathematik die Lehrer alt aussehen. Doch der Überflieger, dem schon als Baby das Wissen der Welt eingetrichtert wurde, stößt mit seiner geschwätzigen Besserwisserei seine Mitmenschen vor den Kopf. Rücksichtnahme auf andere hat er nie gelernt, Liebe nie erfahren. Billy ist kreuzunglücklich. Lieber wäre er ein ganz normaler Mensch statt ein Genie: „All diese Leute, dachte William, waren normal, ohne dass es sie Anstrengung kostete. Die Normalität fiel ihnen so leicht wie ihre Muttersprache. Seine Muttersprache war die Außergewöhnlichkeit. Das war der Fluch seines Lebens: Es gab niemanden, mit dem er in seiner Sprache reden konnte.“ Das Genie rebelliert gegen die…

Vor der Dunkelheit
Rezensionen / 22. Juli 2017

Unsere Gesellschaft wird älter und muss sich eingestehen, dass manche Vorurteile überholt sind. Zum Beispiel, dass alte Leute mit einem Leben am Rand der Gesellschaft zufrieden sind, dass es ihnen genügt, ihre Enkelkinder auf den Knien zu schaukeln. Dass Liebe und Sex endgültig vorbei sind. Die Realität sieht anders aus: Politiker bleiben bis ins hohe Alter aktiv, Kleriker kommen erst ab einem gewissen Alter zu Papst-Ehren und selbst der Normalbürger mischt sich auch als Rentner noch ein. Und selbst die Liebe macht nicht halt vor dem Alter. Aber noch immer grenzt es an ein Tabu, wenn alte Leute sich zusammen und womöglich „es“ tun. Das Unsagbare „in ihrem Alter“! Zwei einsame Alte finden zusammen Kent Haruf hat darüber ein ebenso berührendes wie nachdenklich machendes Buch geschrieben. „Unsere Seelen bei Nacht“ erzählt davon, wie sich zwei einsame Alte zusammenfinden und wie die Gesellschaft alles tut, um sie wieder auseinander zu bringen. Was in der Kleinstadt in Colorado geschieht, könnte ebenso in einem Allgäuer Dorf passieren. Da, wo jede jeden kennt, wo die Fenster Augen und die Türen Ohren haben. Dabei ist die Idee der 70-jährigen Witwe Addie ganz sympathisch. Sie fragt ihren ebenfalls alleinlebenden Nachbarn Louis, ob er nicht ab und…

Brunetti hat einen Burnout
Rezensionen / 2. Juni 2017

Er ist sicher einer der bekanntesten Kommissare. Gäbe es ihn wirklich, Guido Brunetti könnte ein Dienstjubiläum feiern. Denn seit 1992 versucht der sympathische Commissario nimmermüde in der Questura von Venedig Heuchlern und Verbrechern das Handwerk zu legen. Pädophile und Sex-Touristen hat er ebenso aufgespürt wie mafiöse Verstrickungen von Immobilienhaien oder Giftmüllskandale aufgeklärt. Und dabei (fast) den Glauben an die Menschheit verloren. Alltagsfrust  Denn Urheber vieler Verbrechen oder Skandale sind oft angesehene Bürger der Stadt. Und die meisten kommen am Ende dank ebenso findiger wie skrupelloser Anwälte ungeschoren davon. Hinzu kommt die oft frustrierende Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten, Vize-Questore Patta. Ohne die hilfreiche Präsenz der charmanten und klugen Signorina Ellettra und das meist heile Familienlieben wäre soviel Alltagsfrust unerträglich. Auszeit in der Lagune  Kein Wunder also, dass Brunetti nach 25 Jahren einen Zusammenbruch hat. Der ist zwar vorgetäuscht, um einen Kollegen vor einem falschen Schritt zu bewahren. Aber der Commissario merkt schon im Krankenhaus, dass tatsächlich eine Auszeit braucht. Die findet er auf einer kleinen Insel in der Lagune, wo eine Tante seiner Frau ein Anwesen hat. Der wortkarge Verwalter stellt sich als alter Freund von Brunettis Vater heraus, er ist Hobby-Imker und nimmt den Kommissar mit auf seine Streifzüge durch…

Das kalte Blut: Monströse Beichte
Rezensionen / 18. April 2017

„Und so wurden wir ja wirklich das Wüten der ganzen Welt.“ (Koja Solm bei seiner späten Beichte) Ein Monsterbuch, eine monströse Geschichte: Chris Kraus rechnet in „Das kalte Blut“ auf 1200 Seiten mit der jüngeren deutschen Geschichte ab – und er mutet seinen Lesern ganz schön viel zu. Kein Wunder, dass der arme, kranke Hippie, dem der alte Konstantin (Koja) Solm 1974 im Krankenhaus seine Geschichte und die seines Bruders erzählt, fast verrückt wird. Es ist größtenteils keine erfundene Geschichte, die Kraus seinen Protagonisten erzählen lässt, es ist die Geschichte seines Großvaters. Schon in seinem Film „Die Blumen von gestern“ hat sich der Regisseur und Autor bei seiner Familiengeschichte bedient. Zwei Brüder und eine verhängnisvolle Affäre In dem breit angelegten Roman „Das kalte Blut“ lässt er den Großvater selbst zu Wort kommen. Sein alter Ego ist der Deutschbalte Koja, Sohn eines labilen Künstlers und einer stolzen Aristokratin und jüngerer Bruder des Theologiestudenten Hub, der sich zum fanatischen Nationalsozialisten wandelt. Auch Koja wird Nazi, das politische Engagement verbindet die Brüder ebenso wie die Liebe zu Ev, die als angenommene Schwester in der Familie aufwächst und erst spät erfährt, dass sie eigentlich Jüdin ist. Sie heiratet den Älteren und bekommt vom Jüngeren…

Kochkünste und Küchenlatein
Rezensionen / 11. Februar 2017

In J. Ryan Stradals Roman „Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“ geht es zwar um eine geniale Köchin und die Kapitelüberschriften weisen allesamt auf Rezepte hin. Trotzdem ist der Titel eher irreführend. Denn Stradal erzählt zwar ausführlich vom Kochen, aber vor allem eine ungewöhnliche Familiengeschichte in der amerikanischen Provinz. Die Frau mit dem absoluten Geschmackssinn Im Mittelpunkt des Buches steht Eva Thorwald, die Frau mit dem „absoluten Geschmackssinn“. Kein Wunder, ihr Vater ist Koch, ihre Mutter eine ausgezeichnete Sommelière. Doch das weiß Eva nicht. Denn die Mutter verlässt die kleine Familie, als Eva noch ein Baby ist, und der Vater stirbt ausgerechnet an Evas ersten Weihnachtsfest. Seine über alles geliebte Tochter wächst bei Onkel und Tante auf und wird zu einer Virtuosin der Küche des Mittleren Westens und bald auch zu einem umschwärmten Star, der mit seinen Pop-up-Dinners jeden Preis verlangen kann und trotzdem ellenlange Wartelisten abarbeiten muss. Kein Wunder, dass auch Evas leibliche Mutter davon hört und alles in Bewegung setzt, um an solch einem Dinner teilzunehmen… In jedem Kapitel ein neuer Blickwinkel 425 Seiten braucht J. Ryan Stradal in seinem Debütroman, um die beiden ungleichen Frauen aufeinander treffen zu lassen. Weil er Evas Geschichte in jedem Kapitel…

Durch die rosarote Brille
Rezensionen / 24. Januar 2017

Das wäre doch was: Ein lebendiger Spielzeugelefant, noch dazu in rosarot, der in der Dunkelheit leuchtet. Martin Suter, der Schweizer Erfolgsautor mit dem Händchen für aktuelle Themen, konfrontiert die Leser in seinem neuen Roman „Elefant“ mit dem verblüffenden Ergebnis einer Gen-Manipulation. Die kleine Elefantendame verzaubert alle Was so niedlich und harmlos daherkommt, hat einen gefährlichen Hintergrund. Die Möglichkeit, Einfluss auf das Erbgut zu nehmen, könnte skrupellosen Manipulationen Tür und Tor öffnen. Die winzige Elefantendame Sabu, die ihren birmanischen Pfleger Kaung wie ein Gesandter vom Himmel erscheint und die den Obdachlosen Schoch aus seiner Höhle zurück in ein menschenwürdiges Dasein bringt, wäre „ein entzückendes Werbemaskottchen“ für die Harmlosigkeit von Gen-Manipulationen. Gerade das aber wollen der besorgte Veterinär Reber, „Elefantenflüsterer“ Kaung und später auch Schoch und die engagierte Tierärztin Valerie verhindern. Denn Sabu hat sie alle verzaubert. Am Ende wird aus dem Roman ein Märchen Die Rettungsaktion des zwergwüchsigen Wundertiers wird zu einer spannenden Verfolgungsjagd mit einem halben Happy End. Die chinesische Mafia ist involviert und es gibt einen tragischen Unfalltod. „Ein Roman über ein kleines Wunder in einer Welt, in der alles machbar scheint“ heißt es im Werbetext. Suter bietet viel Recherchearbeit auf, um dieses kleine Wunder möglich zu machen, am…

de Winter und die Weltgeschichte
Rezensionen / 4. Oktober 2016

Er weiß, wie er seine Leser dran kriegt, auch wenn er ihnen eine hanebüchene Geschichte auftischt. Leon de Winter ist ein Meister der spannenden Erzählung, und dabei scheut er sich auch nicht, die Realität umzuschreiben. Das gilt besonders für seinen neuen Roman „Geronimo“. Doch diesmal treibt es der Niederländer zu bunt. Denn Winter wagt sich an die Weltgeschichte. Geronimo war das Codewort für die Aktion Bin Laden Geronimo lautete das Codewort für die Aktion Usama Bin Laden, bei der der Gesuchte ums Leben kam. Doch was wäre, wenn die Geschichte lügt? Wenn bin Laden überlebt hätte? Dank eines Komplotts? Das ist die Ausgangsbasis für de Winters Roman. Im Mittelpunkt steht der nicht mehr aktive Navy Seal Tom Johnson. Vorwiegend aus seiner Sicht erzählt Leon de Winter eine Geschichte um Verlust und Liebe, um Verrat und Verantworung, um die Macht der Musik und die Machtspiele der Politik. Zum Gradmesser der Menschlichkeit wird das Mädchen Apana, das über Bachs Goldberg-Variationen Glück erfährt und von den Taliban deswegen verstümmelt wird. Johnson, der Apana mit Bach vertraut gemacht hat, fühlt sich für sie verantwortlich. Aber auch einem anderen wächst die schöne Verstümmelte ans Herz: Usama bin Laden, der hier menschliche Züge zeigen darf, nimmt…