Matriarchat am See
Rezensionen , Romane / 3. April 2023

„Männer starben bei uns nicht“, heißt es gleich zu Anfang des neuen Romans von Annika Reich. „Männer kamen und gingen“. Doch in diesem Frauenhaushalt, den Reich in „Männer sterben bei uns nicht“ entwirft, kommt und geht kein Mann. Frauen unter sich Die Frauen in dem Anwesen am See, „das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große,destruktive Lieben“, bleiben in diesem weiblichen Kosmos unter sich: Die alle beherrschende Großmutter, die Enkelin Luise, die als Ich-Erzählerin den Ton angibt, ihre schöne aber gefühlsarme Mutter, die Tante und deren Tochter sowie die Haushälterin Justyna. Eigentlich würde auch noch Luises Schwester Leni dazu gehören, aber die ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Eine Tatsache, die Luise so sehr beunruhigt, dass sie in zwei toten Frauen, die im See angeschwemmt werden, Leni zu erkennen glaubt. Frage der Erinnerung Doch wie zuverlässig ist die Erinnerung? Was war da wirklich mit Luises geliebter und rebellischer Schwester? Bei der Beerdigung der Matriarchin taucht sie jedenfalls auf ebenso wie eine Schwester der Großmutter, von deren Existenz Luise nichts ahnte.  Die Großmutter hatte sie aussortiert, weil sie nicht in ihr am Patriarchat orientiertes System passte – wie Leni. Täterinnen und Opfer Die anderen Frauen spielen…

Die Frau des Spekulanten
Rezensionen , Romane / 30. September 2022

Der Schriftsteller Hernan Diaz hat mit dem  Roman „Treue“ (im Original „Trust“ – Vertrauen)  ein literarisches Meisterwerk geliefert. Doch worum geht es in diesem verschachtelten Roman? Mit der Geschichte eine fiktiven Wallstreet-Milliardärs und seiner Frau lockt Diaz die Lesenden in ein literarisches Labyrinth, wobei er ein raffiniertes Spiel mit Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ treibt. Vier verschiedene Perspektiven In vier verschiedenen Perspektiven kreist Diaz um den Wallstreet-Tycoon Andrew Bevel und seine Frau Mildred. Am Anfang steht ein Roman um den erfolgreichen Aktienspekulanten Benjamin Rask und dessen psychisch kranke Frau Helen, die in einer Schweizer Nevenklinik an den Folgen barbarischer Experimente stirbt. Es folgt die Lebensgeschichte Andrew Bevels, die auffallend viele Parallelen zum Roman hat, in der Mildred allerdings in einem Sanatorium ihrem Krebsleiden erliegt. Die Memoiren der Journalistin Ida Partenza, die als 20-Jährige Bevels Memoiren teilweise aus der eigenen Fantasie ergänzte, rücken einiges zurecht. Doch eine Art Auflösung bringt erst Mildreds Tagebuch. Bilder einer Frau Wer also ist Mildred/Helen? Eine durch die Kindheit als Hochbegabte traumatisierte Frau, die der Fortschrittsglaube ihres Mannes umbringt? Eine warmherzige Mäzenin und liebevolle Ehefrau, die der Krebs dahinrafft? Oder eine kluge Finanzjongleurin, die bis an ihr Ende und darüber hinaus nicht aus dem…

Das Leben an der Raststätte
Reisebücher , Rezensionen / 21. Februar 2022

„Die Raststätte ist Deutschland im Kleinen. Ein Mikro-, ein Makrokosmos“ schreibt Florian Werner in seinem Buch  Die Raststätte. Und diesen Mikrokosmos erkundet er in der Raststätte Garbsen Nord bei Hannover. Nach dem Motto pars pro toto, eine für alle. Kleine Geschichte der Raststätte So erfahren die Lesenden erst einmal jede Menge Interessantes: Dass es in Deutschland 450 Autobahnraststätten gibt und mehr als eine halbe Milliarde Reisende, die dort einkehren. Dass dort Abertausende arbeiten und Heerscharen von Lkw-Fahrern ihre Frei- und Schlafenszeit verbringen. Dass die Geschichte der Raststätten in den 1930er Jahren begann, verbunden mit dem Bau der Reichsautobahnen. Nostalgie im Gästebuch Und warum gerade Garbsen Nord „ein Ort von hinreißender Durchschnittlichkeit“? Weil die 1954 eröffnet Raststätte quasi in der automobilen Mitte Deutschlands liegt. Der Betreiber der Anlage, Autobahngastronom in der dritten Generation, schwelgt im Gespräch mit dem Autor in nostalgischen Erinnerungen, die er auch ledergebunden im Gästebuch vorlegen kann. Das System Sanifair Das hindert Florian Werner nicht, sich kritisch mit dem System Sanifair samt Wertebons auseinanderzusetzen. Und mit Tank & Rast, die etwas 95 Prozent der deutschen Raststätten betreibt und einem internationalen Konsortium gehört – bestehend u.a. aus einem Tochterunternehmen der Allianz, einem kanadischen Pensionsfonds und dem Staatsfonds von Abu…

Das Ende eines Lebens
Rezensionen / 14. Juli 2017

Am 14. Juli 2016, vor einem Jahr, starb Péter Esterházy, da war der studierte Mathematiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 66 Jahre alt. Das Ende seines Lebens hat der ungarische Autor in einem „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ verarbeitet, das teilweise verstörend ehrlich die mit seiner Krebserkrankung einhergehenden Veränderungen seines Körpers und seines Alltags schildert. Die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs trifft ihn völlig unerwartet. Am 24. Mai 2015 beginnt er sein Tagebuch. Die Drüse drängt sich ihm auf wie eine verschmähte Geliebte Es ist der Versuch, mit den Mitteln der Sprache die Hoheit über sein Leben zurückzugewinnen. „Ich versuchte, versuche, das Unheil am Schlafittchen zu packen. Es unter das Joch der Sätze zu zwingen,“ schreibt er im ersten Eintrag. Er berichtet über sich, die Krankheit, die Familie, das Leben. Er isst, was ihm schmeckt, liest, was ihn tröstet, fragt nach, was ihm fehlt und beschäftigt sich intensiv mit dem Organ, das sein Leben bedroht. Die bislang unbeachtete Drüse drängt sich ihm auf wie ein unwillkommene Geliebte. Mutzi nennt er sie, Bauchspeichelchen, B., wenn er mit ihr streitet und manchmal auch flirtet. Ist sie doch ganz und gar die seine – bis zum Tod. Sie ärgert ihn nicht wie die Freunde oder Bekannten, die ihn aufzumuntern versuchen…