Die Frau des Spekulanten

30. September 2022

Der Schriftsteller Hernan Diaz hat mit dem  Roman „Treue“ (im Original „Trust“ – Vertrauen)  ein literarisches Meisterwerk geliefert. Doch worum geht es in diesem verschachtelten Roman? Mit der Geschichte eine fiktiven Wallstreet-Milliardärs und seiner Frau lockt Diaz die Lesenden in ein literarisches Labyrinth, wobei er ein raffiniertes Spiel mit Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ treibt.

Vier verschiedene Perspektiven

In vier verschiedenen Perspektiven kreist Diaz um den Wallstreet-Tycoon Andrew Bevel und seine Frau Mildred. Am Anfang steht ein Roman um den erfolgreichen Aktienspekulanten Benjamin Rask und dessen psychisch kranke Frau Helen, die in einer Schweizer Nevenklinik an den Folgen barbarischer Experimente stirbt. Es folgt die Lebensgeschichte Andrew Bevels, die auffallend viele Parallelen zum Roman hat, in der Mildred allerdings in einem Sanatorium ihrem Krebsleiden erliegt. Die Memoiren der Journalistin Ida Partenza, die als 20-Jährige Bevels Memoiren teilweise aus der eigenen Fantasie ergänzte, rücken einiges zurecht. Doch eine Art Auflösung bringt erst Mildreds Tagebuch.

Bilder einer Frau

Wer also ist Mildred/Helen? Eine durch die Kindheit als Hochbegabte traumatisierte Frau, die der Fortschrittsglaube ihres Mannes umbringt? Eine warmherzige Mäzenin und liebevolle Ehefrau, die der Krebs dahinrafft? Oder eine kluge Finanzjongleurin, die bis an ihr Ende und darüber hinaus nicht aus dem Schatten des patriarchalen Gatten treten durfte? Die Antwort bleibt den Lesenden überlassen.

Geld als Fiktion

Klar ist, dass Helen/Mildred die Ehefrau eines der erfolgreichsten Finanzkapitalisten war, eines Mannes, der selbst aus dem Zusammenbruch des Marktes am Schwarzen Freitag noch mehr Geld machen konnte. Geld, sagt Idas Vater, der Anarchist, „ist ein Phantasiegut. Man kann Geld weder essen noch anziehen, aber es steht für alles Essen und alle Kleider der Welt. Deshalb ist es eine Fiktion. Und dadurch wird es zum Maß, mit dem wir den Wert aller andren Waren bestimmen.“ Es ist der Mythos Wallstreet, den Hernan Diaz über die Figur des Benjamin Bevel dekonstruiert.

Verführerisches Labyrinth

Warum der Verlag den Originaltitel „Trust“ in „Treue“ uminterpretiert hat, ist nicht ganz nachvollziehbar. Denn Trust ist doch so schön doppeldeutig. Die deutsche Übersetzung wäre Vertrauen, doch Trust steht auch für den den Zusammenschluss von Firmen in einer Treuhandgesellschaft. Beides trifft auf diesen Roman zu. Denn Hernan Diaz verknüpft in ihm Kapital und Existenz. Er tut das in einer ungewöhnlichen Erzählstruktur, bestehend aus vier Romanteilen, die sich in Sprache und Stil radikal unterscheiden. Entstanden ist ein verführerisches Romanlabyrinth, in dem sich Spuren klassischer amerikanischer Literatur ebenso finden wie sensationslüsterner Journalismus oder Lebensweisheiten.

Hineingelesen…

… in Bevels Selbstverständnis als Aktienspekulant 

Der Aktienhandel wurde der beliebteste Hallensport Amerikas.
Das Gelage kreditgestützter Spekulation zog zahllose kleine Fische mit großen Träumen an, stets die verantwortungslosesten Akteure am Markt. Kleine Millionäre redeten sich ein, sie „gehörten jetzt zu den Großen“ und könnten ihre Beute grenzenlos vervielfachen. Banden undisziplinierter Emporkömmlinge, Spekulationstouristen und von niederträchtigen Croupiers angeheiztes  Gesindel wollten auf der Erfolgswelle der schwer arbeitenden Geschäftsmänner mitschwimmen.
Alle warfen mit Spielgeld um sich. Selbst Frauen wagten sich an den Markt! Die Boulevardblätter gaben zwischen Schnittmustern, Rezepten und Tratsch über den neuesten Schwarm Hollywoods „Tipps“ und „Tricks“ zum Investieren.  Das Ladies‘ Home Journal druckte Artikel von Financiers. Witwen und Putzfrauen, Flapper und Mütter „setzten auf Aktien“. Auch wenn die meisten ehrbaren Maklergesellschaften bei ihrer Kundschaft ein striktes Damenverbot durchsetzen, schossen überall in New York Handelsstellen für Frauen aus dem Boden und in kleinen Städten vernachlässigten Hausfrauen mit „einem guten Gefühl“ ihre Pflichten, um in der örtlichen Zweigstelle den Markt zu verfolgen und am Ende des Tages per Telefon ihre Transaktionen durchzugeben. Zu Beginn des Jahrzehnts stellten Frauen nur 1,5 Prozent der dilettantischen Teilnehmer. Gegen Ende waren es beinahe 40 Prozent. Hätte es einen klareren Indikator für die bevorstehende Katastrophe geben können? Der Abstieg von der kollektiven Illusion in die Hysterie war nur eine Frage der Zeit. Ich war mir meiner Pflicht bewusst, zu tun, was in meiner Kraft lag, um die Lage zu richten.

Info  Hernan Diaz. Treue, Hanser Berlin, 414 S., 27 Euro

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