Das Leben an der Raststätte

21. Februar 2022

„Die Raststätte ist Deutschland im Kleinen. Ein Mikro-, ein Makrokosmos“ schreibt Florian Werner in seinem Buch  Die Raststätte. Und diesen Mikrokosmos erkundet er in der Raststätte Garbsen Nord bei Hannover. Nach dem Motto pars pro toto, eine für alle.

Kleine Geschichte der Raststätte

So erfahren die Lesenden erst einmal jede Menge Interessantes: Dass es in Deutschland 450 Autobahnraststätten gibt und mehr als eine halbe Milliarde Reisende, die dort einkehren. Dass dort Abertausende arbeiten und Heerscharen von Lkw-Fahrern ihre Frei- und Schlafenszeit verbringen. Dass die Geschichte der Raststätten in den 1930er Jahren begann, verbunden mit dem Bau der Reichsautobahnen.

Nostalgie im Gästebuch

Und warum gerade Garbsen Nord „ein Ort von hinreißender Durchschnittlichkeit“? Weil die 1954 eröffnet Raststätte quasi in der automobilen Mitte Deutschlands liegt. Der Betreiber der Anlage, Autobahngastronom in der dritten Generation, schwelgt im Gespräch mit dem Autor in nostalgischen Erinnerungen, die er auch ledergebunden im Gästebuch vorlegen kann.

Das System Sanifair

Das hindert Florian Werner nicht, sich kritisch mit dem System Sanifair samt Wertebons auseinanderzusetzen. Und mit Tank & Rast, die etwas 95 Prozent der deutschen Raststätten betreibt und einem internationalen Konsortium gehört – bestehend u.a. aus einem Tochterunternehmen der Allianz, einem kanadischen Pensionsfonds und dem Staatsfonds von Abu Dhabi.

Menschen an der Raststätte

Unbeeindruckt vom „ständigen Kommen und Fahren“ sucht Werner das Gespräch mit den Menschen vor Ort. Mit dem Flaschensammler, der mit dem Fahrrad da ist. Mit dem Notfallseelsorger, der Einblicke ins Seelenleben der Autofahrer gibt. Mit dem Leiter der Autobahnpolizei, der über Konfliktpotenziale und müVT (mündige Verkehrsteilnehmer) referiert. Mit dem Monstertrucker, der schon als Kind beim Vater im Lastwagen saß.

Drei Seiten Pflanzen

Und mit dem selbst ernannten „Gullybotaniker“, der die Flora an der Raststätte unter die Lupe nimmt, weil Autobahnen „Wanderlinien“ sind. Um aufzuzählen, was da alles wächst – vom Australischen Gänsefuß über die Kriechende Quecke bis zur Behaarten Wicke – braucht der Autor satte drei Seiten. Denn: „Der Rastplatz nimmt vorweg, was der gesamten deutschen Landschaft blühen wird“. „Rastplätze sind Futurlandschaften“ stellt Werner fest, „eine Flaschenpost aus der kommenden Welt“.  Aber auch Orte, „wo man als Reisender nicht hin will“. Die vielsagenden Fotos von Christian Werner im Mittelteil des Buches unterstreichen diese Einschätzung.

Zum Schluss die Avus

Und doch will Florian Werner wieder hin – zu einer Raststätte. Ziel der Stippvisite wird die Avus (Automobil-Verkehrs- und Uebungsstraße) in Berlin, „der Opa aller Autobahnen“ – und für Werner eine Offenbarung der anderen Art. Für die Lesenden ist sein ebenso kluges wie unterhaltsames Buch ohnehin eine Offenbarung – für die Magie des Nicht-Ortes Raststätte.
Info  Florian Werner. Die Raststätte – Eine Liebeserklärung, Hanser Berlin, 160 S., 22,70 Euro, ISBN 978-3446267947

 

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