Das Leben feiern

19. Februar 2022

Andreas Altmann hat viel erlebt in seinem Leben – und viel geschrieben. Wunderbare Reportagen aus aller Welt, kritisch, lebensprall. Denn dieser Reporter war immer mit vollem Einsatz unterwegs – und mit offenen Augen und einem offenen Herzen. Das zeigt die Reportagen-Sammlung „Bloßes Leben“, in der Altmann noch einmal vorführt, wofür er gelobt und bewundert wurde.
Der Titel „Bloßes Leben“ verweist auf die Endlichkeit aller materiellen Güter, auf das Existentielle.

Vergangene Zeiten

Und sollte doch auch zeigen, dass viel Zeit über manche dieser Reportagen hinweg gegangen ist. Längst hat sich die Volksrepublik das aufmüpfige Hongkong radikal einverleibt, hat so mancher Held der Reportagen das Zeitliche gesegnet. Und doch lohnt sich die Lektüre, denn  Andreas Altmann versteht es wie nur wenige, die Lesenden hineinzusaugen in seine Abenteuer, sie unmittelbar mit seinen Erlebnissen zu konfrontieren.

Mittendrin im Reporterleben

Da findet man sich mitten in der lebensgefährlichen Wallfahrt zum Penis aus Eis im Himalaya oder taucht ein in eine von Kairos „Städte der Toten“, einem Friedhof, der dabei hilft, „etwas vom Leben und Sterben der Menschen“ zu lernen.  Dieser Reporter muss nichts erfinden, um spannende Reportagen zu schreiben. Seine Neugier treibt ihn an, er schreckt vor nichts zurück, nicht vor Krankheit, schon gar nicht vor Drogen, kein Weg ist ihm zu steil, keine Spelunke zu gefährlich. Er schließt Freundschaften mit Verzweifelten und Gestrandeten, mit Huren und Helden.

Zwischen Himmel und Hölle

So reisen die Lesenden in die „gewalttätige, heroische Landschaft“ Islands, machen Station in der „Kinderlandschaft“ Finnlands, erleben Traumpfade in Kirgistan und Alpträume auf der viel besungenen aber verrottenden Route 66. Himmel und Hölle liegen nah beieinander in diesem Buch, darauf weisen schon die Kapitelüberschriften hin – es beginnt mit der schönen Welt, führt über die herausfordernde, die geheimnisvolle, die sagenhafte und die unglaubliche Welt in eine aussichtslose Welt, die beherrscht wird von Korruption ob in Kenia oder in Mexiko.

Das Buch als Aphrodisiakum

„Prinzip Hoffnung als Holzweg“ urteilt Altmann knapp und findet doch immer wieder Menschen, die Hoffnung geben. „Ich wünschte, jedes meiner Bücher taugte so nebenbei als Aphrodisiakum. Man liest es, man schluckt es und nach spätestens einer halben Stunde regt sich die Lust. Aufs Leben.“ Dieses Buch taugt dazu, auch in Corona Zeiten wieder Lust auf Leben zu bekommen.

 

Hineingelesen…

… in die Himalaya-Wallfahrt

Die dünne trockene Luft greift an. Zersprungene Lippen, Atemnot, Schluckbeschwerden, Husten, Kopfweh. Abends spricht es sich herum: die ersten fünf Leichen. Kurz vor Sheshnag ein Ausrutscher in den Tod. Keiner zeigt sich sonderlich berührt. Der Tod ist Teil dieser Wallfahrt. Und sterben auf dem Weg zu Shiva? Für Hindus existieren schlimmere Abschiede.
Die dritte Nacht. Diesmal darf ich an nackten Fußsohlen riechen. Als kleine Nachtmusik gibt es Kindergebrüll, Rülpser und die obligaten Fürze. Ich warte auf den Morgen.
Aufstieg ins Fegfeuer. Über den Mahagunas Pass 4500 Meter hoch.  Matsch. Morast. Gletscherwasser. Das stündlich wechselnde Wetter, zuerst ein freier Himmel, dann Regen, dann kalte Winde. Packponys, die straucheln und zusammenbrechen. Sechszig Kilo lautet die vorgegebene Höchstbelastung für sie. Das soll niemanden kümmern. Manchmal ist der „Ponywall“, der Treiber, rechtzeitig zur Stelle, um einen tödlichen Absturz zu verhindern. Zur Strafe fürs Bockigsein wird gnadenlos auf das Tier eingepeitscht.
Die Wut wächst. die physische Belastung franst an den Nerven. Die Sänftenträger arbeiten jetzt mit einem fünften Mann. Der geht voraus und schafft Platz. Damit keiner im Weg steht, damit der gefährliche Weg nicht noch zusätzlich durch Hindernisse erschwert wird. Doch manche Passagen erweisen sich als zu schroff, die Möglichkeit eines Unglücks zu bedrohlich. So muss der massige Mensch aussteigen und ohne Hilfe klettern. Nicht einfach, da viele dieser Wallfahrer nicht nur beleibt sondern auch gehbehindert sind.
Ach, Glücksmomente beim Geräusch eines sprudelnden Gebirgsbachs. Den Kopf eintauschen und zehn Minuten lang in die Sonne blinzeln.
Mittags erreichen wir Panschtarni, unser drittes Nachtlager. Ich gehe sogleich zum Fluss, will zwei Stunden wie tot am Ufer liegen.

Info Andreas Altmann. Bloßes Leben, Piper, 304 S, 17 Euro

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