Sasha Filipenko, geboren in der belarussischen Hauptstadt Minsk, weiß, was Andersdenkenden im russischen Einflussgebiet droht: „Die Universität, an der ich in Minsk studiert habe, wurde von Lukaschenko geschlossen. Das Institut der freuen Künste und Wissenschaften, an dem ich daraufhin in Russland studiert habe, wurde von Putin geschlossen. Der unabhängige TV-Sender Doschd, bei dem ich gearbeitet habe, gilt heute als ausländischer Agent.“ In seinem neuen Roman „Die Jagd“ hat er persönliche Erlebnisse ebenso verarbeitet wie Erfahrungen von Kollegen. Herausgekommen ist ein Buch von beklemmender Aktualität gerade in Zeiten russischer Großmachtsbestrebungen.
Im Fadenkreuz der Mächtigen
Im Fadenkreuz der Mächtigen steht der aufrechte Journalist Anton Quint, ein junger Familienvater. Lange glaubt er daran, mit seinen Posts und Recherchen die Welt um sich herum zum Besseren verändern zu können. Quint zieht in den Kampf gegen die Korruption wie einst Quichotte in seinen gegen die Windmühlen.
Das Leben wird zur Hölle
Doch das System schlägt zurück, erbarmungslos. Der korrupte Oligarch Wolodja Slawin setzt ein paar Typen auf den Journalisten an, die ihm das Leben zur Hölle machen. Ihr gnadenloser Vernichtungsfeldzug gilt auch der Familie des Opfers. Quint soll dazu getrieben werden, außer Landes zu gehen. Für die Hexenjagd sind alle Mittel recht: bösartige Verleumdungen, Dauer-Lärmbelästigung, körperliche Angriffe…
Naiver Glaube an das Gute
Was die bezahlten Schurken am Ende erreichen, erschreckt sogar Hartgesottene. Vor allem aber den Künstler-Bruder des Hauptakteurs Lew, eines gescheiterten Journalisten. Dass der Lew trotz des monströsen Geständnisses zutraut ein Gewissen zu haben, beweist nur seine Naivität.
Sasha Filipenko erzählt aus den unterschiedlichsten Perspektiven, lässt Täter, Opfer und Unbeteiligte zu Wort kommen. Ein Stimmengewirr so chaotisch wie das Land, in dem moralische Kategorien wie Gut und Böse scheinbar abgedankt haben. Eine grausame Erkenntnis und ein wichtiges Buch gerade in dieser Zeit.
Hineingelesen
… Quints Aufzeichnungen
Ich wühlte mich durch Quints Computer. Dutzende Ordner, Tausende Dateien. Eine Bibliothek veröffentlichter und vergessener Artikel. Anton beschrieb, wie Papier teurer wird, wenn Banknoten daraus gemacht werden, wie Wahlbeobachtern die Nieren zertrümmert werden und Strandurlauber ain Sotschi plötzlich die russische Hymne anstimmen. Er schreibt darüber, wie Olympische Spiel aus dem Boden gestampft und Lebensmittel vernichtet werden, wie neue Länder annektiert und ausländische Präservative verboten werden. Mit ironischer Distanz beschrieb Quint, wie Städte aus Hubschraubern getauft, und mit Empörung, wie Unbequeme eingesperrt werden. Wie der Wert des Geldes sinkt und der Verfall um sich greift, wie sie Flugzeuge von Kurs abbringen und abschießen. Der Journalist amüsierte sich über Aktivisten, die in Ausstellungen von Exponat zu Exponat wandern und überlegen, wodurch sie sich noch angegriffen fühlen könnten und lachte jene aus, die der Propaganda aufsaßen. „Man steckt Kinder hinter Gitter“, schrieb er, „und Mätressen lässt man raus. Wir streiten, was wir liken sollen, diskutieren, wen wir entfrienden. Checken virtuell genauso wie im realen Leben die Handschlagqualität ab. Sind für die sofortige Eliminierung. Finden Feinde. Verlieren die Orientierung. Verbiegen uns. Glauben,. Irren. Sind unseren Großvätern dankbar, lassen ihnen aber auf dem Zebrastreifen keinen Vorrang. Reimen Veteran auf Sensenmann…“
Ich schloss eine Datei und machte einen eue auf:
„Warum gefällt den meisten Menschen das Leben hier? Weil das Leben in Russland wie Onanieren ist. Eines Tages wird dir klar, dass es in deinem Leben niemals schöne Frauen geben wird… dafür gibt es sie auf Pornoseiten. Und du kannst sie jeden Tag benutzen, kannst sie dir jeden Tag vorstellen. In Russland leben heißt, sich immer alles vorzustellen. In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen. Die Angliederung von Halbinseln, die Erfindung von Feinden – alles das ist eine einzige große, so große wie die Geschichte des Landes, ins Unendliche hinausgezögerte Masturbation. Seit Peter dem Großen hecheln wir hinter Europa her und bezichtigen es zugleich der Vulgarität und Dekadenz. Und ich glaube nicht, dass ich das je ändern wird…“
Info Sasha Filipenko. Die Jagd, Diogenes, 478 S., 23 Euro
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