75 Jahre Großbritannien

21. September 2023

Jonathan Coe („Middle England“) wird immer mehr zum Gewissen der englischen Gegenwart. Auch in seinem neuen Roman „Bournville“, der einen Zeitraum von 75 Jahren umspannt, geht es um das Zusammenspiel von Politik und Privatleben – diesmal verdeutlicht durch die einzelnen Kapitel, welche die Lesenden von den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu deren 75. Jahrestag führen.

Royale Ereignisse

Dazwischen hat Coe Wegmarken britischer Geschichte gesetzt wie die Krönung Elizabeths II., die Investitur von Charles als Prinz of Wales, die Hochzeit von Charles und Diana und die Beisetzung von Diana. Sie zeigen, wie eng verwoben das gesellschaftliche Leben in Großbritannien mit der Monarchie war und vielleicht auch noch ist.

Deutsche und Engländer

Ein einziges Kapitel fällt aus dem Rahmen: Das Finale der Fußballweltmeisterschaft England gegen (West)Deutschland. Aber im Kontext des Romans ist es ebenfalls wichtig, denn Jonathan Coe geht es auch um die deutsch-englischen Beziehungen und um das Verhältnis von Großbritannien zur Europäischen Gemeinschaft. Das klingt alles nach trockener Theorie, liest sich aber so süffig, dass man die 400 Seiten viel zu schnell gelesen hat. Denn dieser Autor versteht sein Handwerk.

Corona und der Tod

Der Roman beginnt mit den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, und er endet mit den Folgen des Lockdowns – und dem Tod der Hauptfigur Mary Lamb. Coe hat sie seiner Mutter nachempfunden, wie er in den Anmerkungen im Anhang schreibt. Auch sie ist in der schlimmsten Zeit der Pandemie gestorben. Alle anderen Figuren, so der Autor, seien allerdings rein fiktiv.

Boris  und seine Spielchen

Womöglich mit einer Ausnahme, dem „strubbelhaarigen Boris“: „Der Mann hatte einen wilden Mopp aus blondem Haar und fuhr mit einem roten Alfa Romeo, aus dessen Stereoanlage Heavy Metal wummerte, durch Brüssel. Er kannte die EU in- und auswendig, weil er einen Großteil seiner Schulzeit in Brüssel verbracht hatte. Später hatte er das Eton College besucht und war Präsident des Debattierzirkels Oxford Union gewesen, und er hatte beschlossen, die langweilige Aufgabe der Berichterstattung aus Brüssel für den Daily Telegraph zu überleben, indem er das Ganze als einen Spaß behandelte, seine Spielchen mit den Fakten trieb und sich jede Story so zurechtbog, als wären die Mechanismen des Europäischen Parlaments Teil einer ausgeklügelten Verschwörung, um die Briten bei jeder Gelegenheit auszubremsen. Seine Zeitung beschäftigte ihn zwar als Reporter, aber er war überhaupt keiner, er war Satiriker und Anhänger des Absurdismus, und offenbar amüsierte er sich so prächtig und machte sich einen solchen Namen, dass alle anderen Journalisten vor Neid erblassten und herauszufinden versuchten, wie so werden könnten wie er.“

Gefühl für den Zeitgeist

Der Roman fängt in jedem Kapitel auf bewundernswerte Weise den Zeitgeist ein, so dass die Lesenden das Gefühl bekommen, dabei zu sein. Der erste Fernseher im Haus von Marys Eltern, eine Sensation. Die Krönungsfeierlichkeiten bringen Verwandte und Nachbarn dicht gedrängt im kleinen Wohnzimmer vor der Flimmerkiste zusammen, während Mary und ihre Freundinnen in dem von Schaulustigen überfluteten London vergeblich versuchen, den Festivitäten etwas näher zu kommen.

Drei Söhne, drei Lebensentwürfe

Im Nu sind 13 Jahre verflogen, John Lennon verkündet, die Beatles seien beliebter als Jesus, und Mary hat zusammen mit dem wortkarg gewordenen Jugendfreund Geoffrey drei Söhne. Jack, Martin, Peter. Jeder verkörpert auf seine Weise einen Aspekt ihrer Generation: Jack, der ewige Optimist, auch ein Opportunist und unterschwelliger Rassist, kommt als Autohändler zu Geld und Ansehen. Martin, politisch der Linken zugeneigt und für eine offene Gesellschaft, wird Manager bei Cadbury, der Schokoladenfabrik, die Bournville als soziale Utopie gegründet hat. Und er wird bei der Europäischen Union den skurrilen Schokoladenkrieg miterleben. Und Peter, der Jüngste, ein sensibler Künstler, muss erst über Umwege zu sich selbst und seiner Sexualität finden.

Zeitsprünge

15 Jahre später bei der Hochzeit von Charles und Diana sitzt die Familie wieder mit Nachbarn vor dem Fernseher, und Martins neue Freundin sorgt für helle Aufregung. Wunderbar, wie  Jonathan  Coe die Lesenden da in die Köpfe der Anwesenden blicken lässt.
Und wieder ein Zeitsprung ins Jahr 1997, als Dianas Tod die Nation in Schockstarre versetzt. Auch die Familie erfährt Einschnitte. Mary erinnert sich mit Sehnsucht an einen alten Flirt, Peter bekennt sich endlich zu seinem Anderssein. War es das falsche Leben?

Bewegender Abschied

Und schließlich Covid, der Lockdown: „Plötzlich war der Kontakt mit anderen Menschen – echter Körperkontakt – eine Quelle der Angst, des Ekels, etwas, vor dem man zurückschreckte.“ Mary wird das nicht überleben, und Jonathan Coe widmet dem Abschied von ihr berührende Zeilen.

Probleme der Gegenwart

Stilistisch spielt Coe mit vielen Möglichkeiten, zitiert Radiosprecher und Zeitungsartikel, schreibt mal in Ich-Form, mal als allwissender Erzähler und packt sämtliche Probleme in den Roman, die Großbritanniens Gegenwart prägen: Multikulti, Klassenbewusstsein, Familie, Rassismus, Nationalismus, Queerness. Dazu die Veränderungen in der Stadt, in der Arbeitswelt, im ganzen Land. Das alles ohne Sentimentalität, mit freundlicher Ironie und manchmal fast väterlich anmutender Kritik.

Info  Jonathan Coe. Bournville, aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Juliane Gräbener-Müller, Folio, 403 S., 28 Euro

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