Für Margot Flügel-Anhalt, inzwischen 70, ist Ruhestand ein Fremdwort. Sie ist am liebsten unterwegs und das mit den unterschiedlichsten fahrbaren Untersätzen. Als Rentnerin fuhr sie mit einer kleinen Honda über den Pamir Highway, mit einem Benz bis Laos und mit einem Lada Niva zum Nanga Parbat. Über ihre Touren gibt es Filme und Bücher. Diesmal blieb die rüstige Abenteurerin in Europa. Mit einem E-Bike vom Discounter fuhr sie die Donau entlang – von der Quelle bis zur Mündung und zurück mit einem „Seniorendampfer“. Eine Frau unter Strom Dabei lässt sich die Rentnerin von kaum etwas schrecken. Weder von wilden Hunden noch von Regengüssen und schlammigen Straßen, auch nicht von Lastwagen, die ihr und ihrem Bike an Engstellen gefährlich nahe kommen. „Ich vertraue mir“, schreibt sie schlicht in dem Buch über dieses E-Bike-Abenteuer „Unter Strom“. Den Titel darf man getrost als doppeldeutig interpretieren. Steht doch auch die Bikerin die meiste Zeit unter Strom. Die Bayern „ein bisschen Söder“ Zweieinhalb Monate hat Margot Flügel-Anhalt für die 2847 Kilometer lange Strecke kalkuliert. Sie will Zeit haben für den Fluss, für Entdeckungen, für Gespräche mit den Menschen. Auch da rechnet sie mit Überraschungen. Das beginnt schon in Bayern: „Ein bisschen machen sie mir Angst,…
Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit durchstöbere ich meine Bücher nach besonderen Schätzen, die Reisenden Freude machen könnten aber auch Menschen glücklich machen, die von Reisen träumen. Hier ist meine Buchauswahl, die hoffentlich für jeden und jede etwas bietet. Für Bergfreunde Beim Klettern und Fotografieren, könne er „mit voller Begeisterung in etwas versinken“ wie einst als Bub in den Bergen, schreibt Heinz Zak im Vorwort zu dem monumentalen Bildband „Tirol – Magie der Berge“. Tatsächlich können auch die Betrachtenden in den grandiosen Bildern versinken, die der Fotograf ausgewählt hat. Bilder von Sonnen- und Mondaufgängen, von Föhn- und Gewitterstimmungen, von schroffen Felsen und knorrigen Bäumen, von Eis und Schnee. Auch solche von Wolkenformationen, von Blumenwiesen, Seen, Höhlen und Wasserfällen. Man weiß gar nicht, welches Motiv eindrucksvoller ist. Magisch sind sie alle in ihrer fast überirdischen Schönheit. Manchmal fotografiert Zak „wie außerhalb von Zeit und Raum“, und so fühlt man sich auch beim Betrachten dieser Fotografien, die unsere Augen für die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Berglandschaft öffnen. Info Heinz Zak. Tirol – Magie der Berge, Tyrolia, 256 S., 48 Euro Für Leseratten Die Arbeitszimmer von Goethe und Schiller sind wahre Pilgerstätten. Nicht alle Schriftsteller haben solche Arbeitszimmer, manche schrieben und schreiben in…
Was für ein Roman: Die Frauen von Shonagachi nötigen uns jede Menge Respekt ab. Rijula Das holt diese von der Gesellschaft geächteten Frauen ins Rampenlicht. Denn sie sind allesamt Huren und arbeiten in einem Bordell in Südasiens größtem Rotlichtviertel in Kolkata. Die „Bordellmutter“ Shefali Madam regiert ihr Reich mit harter Hand. Erzählt wird der aufwühlende Roman entlang der erfahrenen und ziemlich abgebrühten Prostituierten Lalee und ihres Verehrers, des schüchternen Möchtegern-Autors Tilu. Der Retter von der traurigen Gestalt Im Moloch von Kolkata treffen die beiden immer wieder aufeinander. Tilu ist Lalees bester und sicherster Kunde, auch wenn er kaum Geld zum Überleben hat. Aber er liebt diese Frau, die ihn kaum beachtet. Und als Lalee eines Tages verschwunden ist, ahnt er, dass sie in Gefahr ist und stürzt sich in eine Rettungsaktion wie Don Quijote in den Kampf gegen die Windmühlen. Ordnungshüter ohne Ordnung Rijula Das braucht diese humoristischen Einlagen, damit das, was sie zu erzählen hat, erträglich wird. Denn da geht es um Mord, um Kindsmissbrauch, um religiösen Fanatismus und um einen Guru, der seinen Einfluss dazu nutzt, seine perversen Gelüste auszuleben. Auf der anderen Seite, der Seite der staatlichen Gewalt, Polizisten ohne Plan und ohne Engagement. Verpeilte Männer, die…
Anfangs wollte kein Verlag die Texte von Alex Schulmann veröffentlichen. Also begann er als Blogger, denn schreiben war für ihn existentiell. Er schrieb über sich, sein Leben, seine Erfahrungen – und hatte Erfolg. Heute ist der 1976 geborene Schwede einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Der Durchbruch gelang ihm mit „Verbrenn‘ alle meine Briefe“ auch international. Jetzt also ein neuer Schulmann „Endstation Malma“, anders als die Vorgänger und mit einer ganz eigenen Erzählstruktur. Die Wahrheit der Bücher „Bücher haben eine eigene Wahrheit“, hat Alex Schulmann in einem Interview gesagt, als er auf die autofiktionalen Inhalte seiner Romane angesprochen wurde. Kindheit ist für ihn alles. Deshalb spielt sie auch in seinen Romanen eine wichtige Rolle. Das ist in „Endstation Malma“ nicht anders. Anders ist aber, dass die Erzählenden aus verschiedenen Generationen stammen. Ein Zug – drei Generationen Alles beginnt damit, dass die kleine Harriet mit ihrem Vater im Zug nach Malma fährt, ein schüchternes, verunsichertes Mädchen. Schon im nächsten Kapitel ist sie eine Frau, die sich scheinbar selbstbewusst über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt – auch auf der Zugfahrt, auf der sie Oskar begegnet, der diese für die beiden entscheidende Episode erzählt. Und wieder ein Kapitel später ist es die unsichere, dickliche Yana,…
So ein Besuch verlassener und vergessener Orte kann ganz schön abenteuerlich sein – nicht nur an Halloween, dem Tag der Geister. Zumindest deutet Cornelia Lohs das in den Verhaltensregeln an, in denen sie nicht nur darum bittet, die Orte mit Respekt zu behandeln, sondern auch dazu rät, nicht allein zu gehen und sich mit festem Schuhwerk und reißfester Kleidung auszurüsten. Römerkastell und Rakete Dann kann‘s losgehen. 33 düstere und unheimliche Orte hat die Cornelia Lohs im Odenwald aufgespürt: verfallene Klöster, Burgruinen, verlassene Friedhöfe, Höhlen, ja sogar Galgen. Manche der Orte stammen aus der Römerzeit wie die Ausgrabungen des Römerbads Kastell Würzburg, andere aus der Neuzeit wie das Raketenmodell am Ortseingang von Hardheim, das an den Raumfahrtpionier Walter Hohmann erinnern soll. Relikte aus der Nazizeit An eine düstere Geschichte aus nicht allzu lang vergangener Zeit erinnert der „Goldfisch-Pfad“, ein zweieinhalb Kilometer langer Rundweg im Obrigheimer Wald, der die oberirdischen Überreste zweier unterirdischer Rüstungsfabriken aus der Nazizeit verbindet. An zehn Stationen wird von dem Menschen verachtendem Projekt (Tarnname Goldfisch) erzählt, von Rüstungswahn und Zwangsarbeit. Schaurige Szenerie Cornelia Lohs ist ihren „Lost & Dark Places“ sehr nahe gekommen, hat sie so fotografiert, dass sie besonders schaurig wirken – vor dunklen Wolken, im Nebel….
Ist das die Welt, in der wir leben wollen? Laurent Gaudé schreibt in seinem Roman „Hund 51“ über eine nicht zu ferne Zukunft, in der nicht mehr Politiker die Welt regieren, sondern monopolistische Konzerne. Es gibt auch keine Nationalstaaten mehr, dafür ein brutales Klassensystem, in dem Menschen nicht mehr wert sind als ein Hund – wenn sie denn der unterprivilegierten Schicht angehören. Der einsame Held Wie im literarischen Cyber Punk der 1980er Jahre gibt es auch in dieser Dystopie einen einsamen Helden. Zem Sparak gehört zu den Verlierern des Fortschritts. Seine Heimat Griechenland existiert nicht mehr. Er lebt in Zone 3, der Zone der Abgehängten, die schutzlos dem Wüten der Natur ausgeliefert sind. Der Mann ist desillusioniert und versieht seinen Dienst als Polizist ohne großes Engagement. Dann wird eine übel zugerichtete Leiche gefunden, und Zem bekommt den Auftrag, zusammen mit der ehrgeizigen Kommisarin Salia aus der privilegierten Zone 2 zu ermitteln. Keine Hoffnung Dass Salia ihn als Hund bezeichnet, der da schnüffeln soll, wohin sie ihn schickt, stört Zem kaum. Er hat schon längst den Glauben an das Miteinander der Menschen verloren, auch die Hoffnung auf bessere Zeiten. Doch irgendwie kommen die beiden unterschiedlichen Ermittler doch noch zusammen, ja es…
Transsilvanien, da denkt man zuallererst an Dracula, blutsaugende Vampire, an Bären und Wölfe. Aber eher nicht ans Auswandern. Die Literaturwissenschaftlerin Rita Klaus hat aber genau dort für ihre sechsköpfige Familie eine neue Heimat gefunden – in einem Dorf im Nirgendwo. Mit Leichen gepflastert In dem Buch „Tatsächlich Transsilvanien“ beschreibt sie den nicht immer ganz einfachen Weg der Familie, in Rumänien heimisch zu werden: „Nein, unser Weg nach Transsilvanien war nicht einfach. Er ist mit Leichen gepflastert, gefressene Katzen, gerissene Kühe, erfrorene Straßenhunde, erstochene Schweine, geköpfte Truthühner. Und Rumänen, die sich über uns totgelacht haben.“ Fettnäpfchen und Tretminen Mit Recht, wie die Autorin zerknirscht einräumt. Kein Fettnäpfchen, in das sie nicht getreten ist, und dann auch noch die Tretminen der rumänischen Sprache. Rita Klaus und die Ihren mussten viel lernen, bis sie sich in Transsilvanien daheim fühlen konnten. Das fängt schon bei der Sanierung des alten Hauses an und reicht hinein bis in den Alltag: „In Rumänien bist du der Depp, wenn du nicht backen, räuchern, wursten oder wenigstens anständig einkochen kannst.“ Straßenhunde und Plumpsklo Die Neuankömmlinge müssen sich an die allgegenwärtige Armut ebenso gewöhnen wie an den Müll, die Straßenhunde und überhaupt den eher rauen Umgang mit Tieren. Dafür werden…
Schönheitsoperationen boomen, Influencer werben für Selbstoptimierung. Der Traum von der ewigen Jugend, ja selbst vom ewigen Leben, scheint realisierbar. In ihrem spannenden Thriller „Die Verheißung“ nimmt sich Petra Ivanov dieses heißen Themas an. Der erste Teil ihrer Kyro-Trilogie entführt die Lesenden in die Welt der Transhumanismus-Forschung, wo die Grenzen zwischen Leben und Tod immer mehr verschwimmen. Ist alles, was möglich ist, auch unter moralischen Gesichtspunkten akzeptierbar? Blutplasma zur Verjüngung Es sind existentielle Fragen, die Petra Ivanov in ihrem Thriller verhandelt. Denn die Protagonistin Julia gerät auf der Suche nach ihrem verschollenen Sohn Michael ins Fadenkreuz profitgieriger Unternehmen. Da wird skrupellos Blutplasma von Kindern zur Verjüngung verkauft, werden Tote eingefroren, um dereinst wieder zum Leben erweckt zu werden. Dass bei alldem auch mit kriminellen Methoden gearbeitet wird, erschließt sich Julia schnell, als sie bei ihrer Suche mit dem ersten Ermordeten konfrontiert wird. War Michael verbrecherischen Auswüchsen des Selbstoptimierungshypes auf der Spur? Und was hat der Tod des vierjährigen Jesse mit alldem zu tun? Folgenschwere Recherche Michael hatte zur Überraschung Julias seinen Beruf als Chirurg an den Nagel gehängt und war als investigativer Journalist in die USA gereist. Nach einem Besuch im Elternhaus verschwand er spurlos. Doch Julia gelingt es, den verschlungenen…
Das kennen Kinder nicht nur aus der Schule. Es passiert etwas und schnell ist der oder die Schuldige gefunden. Dass es dabei oft Unschuldige trifft, nimmt man in Kauf. Die Juristin Juli Zeh und Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht, haben sich mit dem Kinderbuch „Der war‘s“ des Problems einer Vorverurteilung auf kindgerechte Weise angenommen. Der Pausenbrot-Klau Die sechste Klasse ist in Aufruhr. Marie, der besten und beliebtesten Schülerin, wurde mehr fach das Pausenbrot geklaut. Nicht ein normales Pausenbrot, nein, ein Supersandwich. Schnell ist ein Verdächtiger gefunden: Der rundliche Konrad hat sich an Maries Rucksack zu schaffen gemacht. Und der Schnüffler Torben hat ihn dabei ertappt. Schon läuft die ganze Maschinerie an – auf Instagram, WhatsApp & Co wird gegen Konrad gehetzt. Das hat Auswirkungen auch in der Schule. Improvisierte Gerichtsverhandlung Die Lehrer, überfordert und mit anderen Dingen beschäftigt, bekommen davon nichts mit. Nur Mika, einer der Schüler aus der Sechs, hat seine Zweifel. Man müsse doch alles genauer untersuchen, ehe man einen Mitschüler schuldig spreche, meint er. Weil die anderen und vor allem Marie inzwischen ein schlechtes Gewissen haben, wird schnell eine Verhandlung improvisiert, bei der Mika als Anwalt dem Beklagten zur Seite steht. Ende gut, alles gut? Am Anfang…
„Morning has broken“ – der Titel des neuen Buches von Andreas Altmann über Leben, Reisen, Schreiben nimmt den Cat-Stevens-Hit zum Motto. Altmann, der unermüdlich Reisende und Schreibende kann sich sicher mit der Zeile identifizieren: Mine is the sunlight, mine is the morning (mein ist das Sonnenlicht, mein ist der Morgen), eher weniger mit dem Lobpreis Gottes. Denn, obwohl auch Andreas Altmann altersmilde geworden ist und das „moralisch Hochgerüstete“ ihn verlasen hat, mit dem lieben Gott hat er seine liebe Not. Leben und Schreiben Sein Buch ist aber eine Hymne auf das Leben, das für ihn gleichzusetzen ist mit „Erleben“. Und ein Lob des Schreibens, das ihm dieses Erleben erst ermöglicht: „Mein Hauptwohnsitz ist die deutsche Sprache, nebenbei wohne ich in Paris.“ Es ist ein ehrliches Buch geworden ohne Selbstüberhöhung, auch ohne allzu große Selbstentblößung. Ein Buch über die Schönheit der Sprache: „Ich genieße die kleinen Siege der Poesie. Nie wird sie Berge versetzen, aber mit nichts als ein paar Worten Nähe und Wärme zwischen zwei Fremden zaubern.“ Über das Reisen Natürlich ist es auch ein Buch über das Reisen, wobei Andreas Altmann auch dabei Grenzen setzt: „Ich misstraue allen, die rastlos abwesend sind, ich kann das nicht. Ich muss zwischendurch…