Verlorene Paradiese
Rezensionen / 23. Oktober 2018

Markus Mauthe ist nicht nur ein engagierter Naturfotograf, sondern auch ein leidenschaftlicher Naturschützer. Mehr als drei Jahre war er für sein neues Projekt in den entlegensten Gebieten unterwegs und hat Menschen besucht, die an den Rändern unserer westlich geprägten Welt leben und „sich den Spielregeln der Moderne so weit wie möglich widersetzen“, wie Florens Eckert im Vorwort schreibt. 22 indigene Volksgruppen hat Mauthe porträtiert – in Tropenwäldern, Gebirgen, Wüsten, auf dem Ozean und im eisigen Norden. Aufschrei gegen die Ausbeutung Sein Buch ist ein Aufschrei gegen die Ausbeutung, „die inzwischen in die letzten Ecke der Erde reicht“. Mit seinen großartigen Porträts will er die Geschichten der Betroffenen erzählen, denen eine Stimme geben, deren Lebensräume mit bestürzender Hochgeschwindigkeit schwinden. Er war bei den kriegerischen Suri im Südsudan. Bei den christlichen Chin in Myanmar, deren Frauen sich die Gesichter tätowieren. Er hat die Awa am Amazonas fotografiert und dabei das Gefühl gehabt, „sowohl deren letztes Kapitel zu erleben als auch tief in ihre Vergangenheit zu blicken“. Er war bei den Himba und den San in Namibia, deren Kinder sich schämen, einer minderwertigen Kultur anzugehören. Der Alltag als Touristen-Spektakel Er hat das Omo-Tal durchstreift, wo die Touristen einzigartige Erlebnisse erwarten und mit dazu…

Dunkle Abgründe auf Lanzarote
Rezensionen / 23. Oktober 2018

Es ist ein schmales Buch. Juli Zehs „Neujahr“ entführt die Leser nach Lanzarote, wobei der Vulkaninsel mit ihren schwarzen Stränden eine Art Doppel-Rolle zukommt. Denn Henning, der mit Frau und zwei Kindern, auf Lanzarote Weihnachten und Silvester verbringt, war schon einmal da – als kleiner Junge. Was damals geschah, war so schrecklich, dass er es verdrängt hatte. Doch nach dem Silvesterabend, bei dem seine Frau Theresa ausgiebig mit einem anderen Gast flirtet, startet Henning zu einer Radtour in die Berge und fordert sich dabei bis zur völligen Erschöpfung. Vielleicht liegt es daran, dass längst Verschüttetes an die Oberfläche drängt. Die Überforderung des modernen Vaters Bis dahin haben die Leser relativ wenig über Henning und seine Familie erfahren: Ein bürgerliches Paar wie viele, das sich die Erziehung der Kinder teilt und gerne vom Home Office aus arbeitet. Kleine Streitereien zwischendurch, nichts Ernstes. Nur, dass Henning immer wieder von Panikattacken heimgesucht wird. Womöglich als Folge von Überforderung. Denn Henning ist ein moderner Vater, einer, der sich einbringt – und trotzdem die Mutter nicht ersetzen kann. Über den Ehrgeiz, es allen recht zu machen, hat er die eigenen Wünsche aus dem Blick verloren. Jetzt, als er sich den Berg hinauf plagt, bricht es…

Paar-Therapie
Rezensionen / 4. Oktober 2018

„Mir ist aufgegangen, dass das alles miteinander zusammenhängt. Wenn man irgendwo einen Stein rausnimmt, fällt gleich alles in sich zusammen. Und dann muss man alles wiederaufbauen, nur diesmal anders.“ Charlotte und Steve haben sich auseinander gelebt, wollen aber ihre Ehe nicht ganz verloren geben und sind deshalb bei der Paar-Therapeutin Sandy. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert In dem Raum stehen allerdings nicht nur drei, sondern vier Stühle. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert, sagt Sandy. Ihre Methoden, die Ehe ihrer beiden Mandanten zu retten, sind eher unorthodox aber gerade deshalb interessant. John Jay Osborn hat seinen Roman „Liebe ist die beste Therapie“ wie ein Kammerspiel inszeniert. Die Leser sitzen quasi dabei und hören zu, wenn Steve von seinem Seitensprung erzählt und Charlotte den verständnisvollen Bill lobt, der ihr eine große Stütze war, als sie von Steves Untreue erfuhr. Wenn sie über die Zukunft der Kinder streiten und auch von neuen Versuchungen berichten. So als wäre man selbst in Therapie Die Therapeutin wirkt bei diesen Gesprächen wie ein Katalysator, ermöglicht harte Auseinandersetzungen und setzt sich dafür ein, dass sie fair bleiben. Für Charlotte und Steve sind die Sitzungen nicht immer einfach. Trotzdem kommen sie treu und…

Rätselhaftes Georgien
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Georgien, das Land zwischen den Kontinenten, 2018 Partner der Frankfurter Buchmesse, weckt immer mehr Interesse auch der Reisenden. Nicht jeder wird 40 Tage Zeit haben, um das schöne Land, das uns immer noch sehr fremd ist, zu erkunden, wie es Constanze John getan hat, als sie von Tiflis bis ans Schwarze Meer gereist ist und mit vielen Menschen über ihren Alltag und ihre Sorgen und Wünsche gesprochen hat. Einführung in die Minutenwelt Aber ihr dickes Buch kann zum besseren Verständnis der Kaukasusrepublik beitragen. Kann den Lesenden die „Minutenwelt“ der Georgier, Zutisopeli, nahe bringen oder auch den Geisterglauben, der in Swanetien beheimatet ist. Die Reisebuch-Autorin aus Leipzig lässt sich ein auf ihre Gesprächspartner, bringt sie zum Reden und erfährt so manch Interessantes: Etwa dass die schmackhaften Teigtaschen, die Chinkali, möglicherweise aus China kommen, aber im „Spirit von Georgien“ neu interpretiert worden seien, zu „einer Suppe mit Rindfleisch“. Überhaupt spielt bei den Begegnungen der 59-jährigen Autorin mit den Menschen vor Ort die Supra, der für Gäste reichlich gedeckte Tisch, eine wesentliche Rolle. Die Gastgeber übertrumpfen sich gegenseitig mit Leckereien, und der Alkohol löst die Zungen. Denn bei den Gastmahlen fließt der traditionell in Ton-Amphoren, den Quevris, gereifte Wein in Strömen. Mit den…

Widersprüchlicher Kaukasus
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Der Sage nach haben die Götter Prometheus an den Berg Kasbek gekettet zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer gebracht hat. Seither geht ist der Kaukasus nicht zur Ruhe gekommen. „Entlang der 1100 Kilometer langen Bergkette zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer streiten sich Großmächte und Kleinstrepubliken um Grenzen, Eigenständigkeit und Ressourcen,“ schreibt Stephan Orth in der Einleitung zu dem beeindruckenden Bildband „Kaukasus – Eine Reise an den wilden Rand Europas“. Im Kaukasus bestimmen bis heute Konflikte den Alltag Und wild ist diese immer noch unentdeckte Grenzregion, wie die großartigen Aufnahmen von Gulliver Theis zeigen. Sie nehmen die Betrachter mit in eine fremde, aufregende Welt. Eine Welt, in der noch immer Konflikte den Alltag bestimmen und die trotzdem voller Menschlichkeit ist. Eine Welt, in der Bobby-Cars Panzerform haben, die Autos auf den Straßen oft prähistorisch sind und die Nachbarländer einander zumindest mit Misstrauen begegnen. Stephan Orth und Gulliver Theis zeigen die unterschiedlichsten Seiten dieser Region: Es geht nach Russland, Georgien und Aserbaidschan – das nicht weniger konfliktreiche Armenien bleibt außen vor. Schräge Typen und gastfreundliche Menschen Unterwegs treffen die beiden Deutschen schräge Typen und gastfreundliche Menschen – und dank Handy-Übersetzungsprogramm kommen sie mit vielen ins Gespräch, wenn auch…

Georgischer Don Quijote
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Vor 26 Jahren hat Aka Morchiladze den Roman „Reise nach Karabach“ veröffentlicht. Damals stand der junge Gio, ebenso antrieb- wie erfolglos, für eine ganze Generation, für eine Jugend ohne Plan und Ideale. Seither hat sich die Welt, hat sich Georgien gewandelt. Dennoch gibt der Roman, scheinbar hingerotzt und bis heute Kultbuch vieler Georgier, einen guten Einblick in die Probleme des Landes. Zwei Tagediebe auf einer unsicheren Reise Es beginnt als Roadmovie, als Gio, der liebeskranke Sohn eines mächtigen Mafioso, mit seinem Freund Gogliko, einem versoffenen Tagedieb, zum Drogenkauf in die Berge fährt. Die beiden wissen nichts mit ihrem Leben anzufangen, die meiste Zeit sind sie ohnehin kaum bei Bewusstsein dafür aber stolz auf sich selbst: „Wir sind aus Tbilissi. Wir wissen Bescheid, was schlecht und was gut ist. Gut ist alles, was bei uns ist, schlecht: fern von uns. Wer schlecht ist, kann für sich leben, aber er soll uns in Ruhe lassen.“ Von der Gegend, in die sie fahren, haben die beiden ebenso wenig einen Plan wie für ihr Leben. Und so landen sie in Berg Karabach, dem zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpften Landstrich. „‘Wo sind wir?‘“ fragte ich. – ‚Berg- Karabach. Nördliches Territorium, sechs Kilometer von der Front…

Zuviel auf einmal
Rezensionen / 25. September 2018

Mit seinem Roman „Das kalte Blut“ hat der deutsche Filmemacher mit baltischen Wurzeln Chris Kraus der Literaturwelt einen schwer verdaulichen Brocken Vergangenheitsbewältigung hingeworfen. Eine furiose, wütende Abrechnung mit der deutschen (und der baltischen) Geschichte, die nach Kraus‘ Meinung noch lange nicht abgeschlossen ist. Nun legt er mit „Sommerfrauen, Winterfrauen“ nach.  Doch so richtig funktioniert es diesmal nicht. Als Liebes- und Künstlerroman getarnt Zwar spielt diese als Liebes- und Künstlerroman getarnte Geschichte in den 1990er Jahren in New York und ermöglicht die absurdesten Begegnungen in der von der eigenen Vergangenheit trunkenen Szene: „Ich merke: New York manifestiert sich für mich in diesem gefräßigen, milchsaufenden Gargantua, dieser zypklopischen Extunte, mit der ich eine Ruine von Wohnung teile und die all die Schmerzen, all den Wahnsinn, alle Möglichkeiten dieser Stadt verkörpert.“ Zwar philosophiert Kraus‘ Protagonist, der zwischen seiner vietnamesischen Freundin Mah und der quirligen Goethe-Institut-Praktikantin Nele hin und her gerissene Jonas Rosen, über Winterfrauen („Sie wohnt in ewigem Permafrost… Verantwortungsvoll und groß ist sie im Schmieden von kleinen Plänen. Zuverlässig.“) und Sommerfrauen („Sie war gleichzeitig extrem zurückhaltend und völlig ohne Schüchternheit. Ein Rätsel.“). Rosa von Praunheim lässt grüßen Aber auch hier drängt sich eine Episode aus dem Dritten Reich ins Zentrum: Rosen, von…

Das Leben ist (k)ein Film
Rezensionen / 13. September 2018

„Der Strand hatte sich inzwischen gefüllt. Bald würden wir wieder nach Hause fahren, müde vom frühen Aufstehen, von der Sonne, dem Meer. Der schönsten und sattesten Müdigkeit, die es gab. Noch Sand zwischen den Zehen und in den Haaren, Salz auf der Haut, quetschten wir uns alle wieder ins Auto, die Autotüren schlugen zu, und wir fuhren von der jetzt voll geparkten Koppel, als wäre alles ein Super-8-Film, den man rückwärts laufen ließ.“ Der Rückwärtslauf war besser als Dick und Doof  Nein, ein Super-8-Film war das Leben im ländlichen Schallerup, das Anne Müller in ihrem Debüt „Sommer in Super 8“ beschreibt, trotz solcher Erinnerungen nicht. Es sind die 1970er Jahre, die ersten Menschen landen auf dem Mond, die Kinder tragen im Sommer kurze Hosen, die Sängerin Alexandra stirbt bei einem Unfall und der Vater, ein Landarzt, filmt seine Familie in Super-8. Bei den Filmvorführungen im kleinen Kreis ist der Rückwärtslauf immer das Highlight, besser als Dick und Doof. Der Vater liebt die Augsburger Puppenkiste – und den Alkohol. Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade, dahinter verbirgt sich eine Lebenslüge mit dramatischen Folgen. Auch die Welt draußen ist nicht heil: Das Olympia-Attentat, bei dem elf…

Hütchenspiel im Herrenhaus
Rezensionen / 13. September 2018

Ein altes Herrenhaus irgendwo im Nirgendwo in Schottland, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Oder besser die Pfauen, die der Lord mal angeschafft hat und die sich vermehrt haben. Eine Gruppe Banker, die sich zum Teambuilding eingemietet hat und überrascht ist über den mangelnden Komfort in dem riesigen Anwesen, das sich nur schlecht beheizen lässt. Die toughe Chefin des Ganzen hat Köchin und Psychologin mitgebracht. Nichts soll schief gehen – und doch läuft nichts wie geplant. Der verrückte Pfau bringt alles durcheinander Das liegt nicht nur an dem verrückten Pfau, der alles attackiert, was blau ist, sondern auch an den tierischen Bewohnern und am Wetter. Es ist mitten im Winter, die Banker werden eingeschneit, die Chefin holt sich eine Grippe. Schlechteste Aussichten also für Teambuilding. Dass die Gruppe dennoch zusammenwächst, hat mit den widrigen Umständen ebenso zu tun wie mit der romantischen Umgebung und den Künsten der Köchin. Beste Agatha-Christie-Manier Isabel Bogdan kennt sich aus in den schottischen Highlands und mit der Mentalität der Lords und Ladys. Ihr Roman ist ein lustiges Hütchenspiel im Herrenhaus in bester Agatha-Christie-Manier. Denn alle wissen etwas, was die anderen nicht wissen, und das führt zu den absurdesten Verwirrungen: „Und so verging der…

Reisen öffnet das Tor zur Welt
Rezensionen / 13. September 2018

Er ist viel gereist in seinem Leben, war mit Bus und Zug unterwegs, mit dem Flugzeug und zu Fuß, hat Reportagen über seine Reisen geschrieben und war Mitbegründer einer Reisezeitschrift. Für den schwedischen Reiseschriftsteller Per J. Andersson ist Reisen „die wirkungsvollste Methode, das eigene Bild von der Welt zu erweitern“. Und darüber schreibt er auch in seinem Buch, das reich ist an Zitaten und kleinen Geschichten und das den Leser mitnimmt ins pralle Leben etwa nach Indien, wo der Autor immer wieder gerne ist. Gedanken über den Sinn des Reisens Andersson ist ein gebildeter Reisender, einer, der viel gelesen hat über das Reisen und die Welt und der sich Gedanken gemacht hat über den Sinn des Reisens und über die Geschichte des Unterwegsseins – von den Nomaden der Frühzeit über die Roma und die Landstreicher bis zu den Tramps und Hippies. Wie andere Zeitgenossen auch ist er zwar immer wieder als Rucksackreisender unterwegs – aber mit Netz und doppeltem Boden, also mit der Gewissheit, zurückkehren zu können in einen gesicherten Alltag. Das unterscheidet den „Freizeitvagabunden“ von jenen, die aus Armut oder Verzweiflung auf der Straße leben. Trampen als Zivilisationskritik Trotzdem kennt auch er, „das leise brodelnde Glücksgefühl, (fast) pleite und…