Der andere Tell

28. Februar 2022

Ui, da hat Joachim B. Schmidt den Schweizer Nationalhelden Tell ganz schön zerzaust. Ein armer Bergbauer ist sein Tell, der so gar nichts von Schillers Heldenmut hat. Erzählt wird die Anti-Heldengeschichte von einem Chor von Zeitzeugen. Darunter auch von Walter, dem Sohn, dem Wilhelm Tell auf Befehl des habsburgischen Reichsvogts Gessler den Apfel vom Kopf schießen muss.

Desolate Lebensverhältnisse

Der Schweizer Schmidt nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Erzähler die desolaten Lebensverhältnisse der Bauern beschreiben lässt, die Kleingeistigkeit in den engen Tälern. Nichts da von politischer Aufmüpfigkeit oder einem „einig Volk von Brüdern“. Nur ein täglicher Kampf ums nackte Leben und gegen eine Diktatur, die selbst die armseligste Existenz durch immer neue Schikanen bedroht.

Der Gegenspieler von Tell

Ja, auch der Gesslerhut spielt seine Rolle, aufgesteckt, um das dumpfe Bauernvolk Mores zu lehren. Der Harras hatte die Idee, Gesslers Sicherheitschef. Ein bösartiger Intrigrant ist das bei Schmidt und ein gemeiner Leuteschinder. Die Bauern verachtet er genauso wie den Reichsvogt, seiner Meinung nach ein verweichlichtes Bürschlein. Schmidt macht ihn zum eigentlichen Übeltäter und damit zum Gegenspieler Tells. Harras verkörpert die dunkle Seite der Macht, ein echter Kotzbrocken.

Schwacher Reichsvogt

Im Gegensatz zu ihm ist Schmidts Gessler durchaus zu Mitleid und Menschenliebe fähig, aber nicht stark genug, sich gegen seinen heimtückischen „Beschützer“ durchzusetzen. „Ich gleiche immer mehr den Männern, die ich so verachte, hier, am Rande unseres Reiches. Es ist eine Wildnis, und sie machte einen Wilden aus mir.“ Ins Geleit dieses wenig souveränen Reichsvogts hat der Autor, der in Island seine Wahlheimat gefunden hat, noch einen exotischen Nordmann eingeschmuggelt, einen echten Kerl.

Eine Mutter als Heldin

Auch in diesem Tell kommt es wie es kommen muss und doch auch wieder anders. Gessler wird zwar von Tells Pfeil tödlich getroffen, aber Harras überlebt und stürzt sich auf den Attentäter. Es wäre ein unrühmliches Ende für Tell, wenn nicht eine mutige Mutter beherzt dazwischen gegangen wäre. Die Bittstellerin, die bei Schiller nur eine kleine Rolle spielt, wird hier zur Heldin.

Der tote Bruder und ein Trauma

Dass dieser Tell von einer alten Isländer- Saga inspiriert ist, schreibt der Autor im Nachwort. Vielleicht hat er deswegen dem Wilhelm auch den verstorbenen Bruder Peter zur Seite gestellt, Walters leiblichen Vater. Umgekommen war Peter im Gebirge, als er Wilhelm nachkletterte so wie es wohl bei den Messner-Brüdern am Nanga Parbat war. Der Tod des Bruders ist für Wilhelm eine Schuld, die er am Ende begleichen wird. Und noch etwas hat Schmidt seinem Tell mitgegeben – ein Trauma aus der Kinderzeit, das viele Opfer pädophiler Pfarrer kennen.

Der Held wird menschlich

Ganz zum Schluss deutet sich an, wie es später zur Geschichte vom Nationalhelden Tell kommen konnte.  Joachim B. Schmidt hat mit seinem Roman den Sockel zertrümmert, auf den die Schweizer ihren Nationalhelden gestellt haben. Zugleich hat er den Helden zum Menschen gemacht. Ein Blockbuster, wie der Verlag schreibt, ist das Buch trotzdem nicht – auch wenn es fast filmisch aufgebaut ist. Aber ein überraschender Pageturner ist dieser etwas andere Tell auf jeden Fall.

Hineingelesen…

… in  Gesslers Entscheidung

Harras hebt die Hand, bis es schließich still auf dem Platz wird. Der Bauer schaut zu Boden.

„Tell ist dein Name?“ frage ich ihn mit lauter Stimme, damit es alle hören.
Tell blickt auf, schaut an mir vorbei in die Wolkendecke. Doch er nickt. Ein Raunen geht durch die Menschenmenge.
„Stimmt es, was behauptet wird? Du hast dich nicht vor meinem Hut verbeugt?“
„Er hat die Verneigung mehrmals verweigert“, tönt es nun hinter mir. Es ist einer der Wachsoldaten. Dass er besoffen ist, habe ich längst bemerkt.
Tell sagt nichts. Sein älterer Junge fällt auf die Knie und neigt sein Haupt vor mir, zieht dabei seinen Bruder neben sich auf den Boden. Tell bleibt steif stehen, hält die Kuh am Strick, die völlig erschöpft zu sein scheint.
Ich sage lange nichts. Sammle mich. Denke nach. Ich könnte dieses Theater einfach verlassen, mein Pferd abwenden und wie ein stolzer Fürst über den Dorfplatz reiten und verschwinden. Ein verführerischer Gedanke. Damit würde ich die Strafsprechung Harras überlassen, doch dann würde sie grausam sein. Harras würde womöglich die ganze Familie auspeitschen und den Kopf des Vaters auf die Stange spießen.  Verzweifelt suche ich nach einer besseren Lösung. Die Leute, und nicht zuletzt unser Gast aus dem Norden, müssen sehen, dass ich mein Volk mit harter, wenn auch gerechter Hand führe. Dieser Moment birgt möglicherweise eine Chance!
Die Menschen schauen mich abwartend an. Unter ihnen sind einige Irrsinnige, mit offenen, geifernden Mündern, rotzsverschmierten, schmutzigen Gesichtern, ein paar sind barfuß, obwohl der Boden kalt und nass ist. sie husten. Ihre Augen tränen. Der Rauch aus den Schornsteinen ist fast unerträglich, kratzt in den Hälsen. Er quillt in den grauen Herbsthimmel, bleibt eine Weile über den Dächern hängen und wird von den schweren Wolken wieder nach unten gedrückt. Wieso verbrennen sie Dung und feuchten Torf, wenn sie Holz haben? Scheuen sie die Arbeit? Haben sie keine richtigen Werkzeuge hier?
Totale Windstille. Mir wird übel. Eine Wut steigt in mir auf, wie sich sie gar nicht kenne. Wieso wehrt sich dieses Volk gegen uns, verweigert den Schutz und den Fortschritt? Einige sind offensichtlich unterernährt, degeneriert, schielen oder haben Fehlbildungen oder von Blasen vernarbte Gesichter.
Und dieser Tell! Ein Querkopf, ein Bergler, ein Wilderer. Damals in den Felsen ist er mit der Armbrust unterwegs gewesen. Ich muss an das dumme Spiel der Soldaten im Burghof denken. Aus kurzer Distanz wäre es für Tell sicher ein Leichtes, den Apfel zu treffen. Was, wenn die Frucht auf dem Kopf seines Sohnes wäre? Dann hätten die Leute das gewünschte Spektakel, niemand käme zu Schaden.
„Was haben Sie vor?“ brummt Harras ungeduldig.
Er wird sich wundern.

Info  Joachim B. Schmidt. Tell, Diogenes, 284 S., 22 Euro

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