Fingerzeit im Reschensee

3. August 2020

Der Mailänder Marco Balzano ist einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Sein Roman „Das Leben wartet nicht“ wurde mit dem Premio Campiello ausgezeichnet. Mit seinem neuen Buch „Ich bleibe hier“ hat sich der 42-jährige Italiener Südtirol zugewandt. Der aus dem Reschensee aufragende Kirchturm, der für viele Touristen einen Fotostopp wert ist, hat Bolzano nachhaltig beeindruckt und zu einem Roman inspiriert, der mehr noch als eine berührende Familiensaga eine Lektion in europäischer Geschichte ist.

Ein Ort, den es nicht mehr gibt

„Ich hatte die Idee, das hervorzuholen, was im Wasser versunken ist“, schreibt der Autor in seinen Anmerkungen. Versunken ist das Bergdorf Graun, in dem die junge Lehrerin Trina vor dem Zweiten Weltkrieg lebt – unter erschwerten Bedingungen. Die Ich-Erzählerin Trina beschreibt die Probleme in Aufzeichnungen für ihre Tochter Marica, die Graun und der Familie den Rücken gekehrt hat: „Ich werde dir berichten, was sich hier in Graun abgespielt hat. An dem Ort, den es nicht mehr gibt.“

Die Geschichte von der Option

Trinas Schwägerin und ihr Mann hatten Marcia bei Nacht und Nebel mit nach Deutschland genommen. Sie gehörten 1939 zu den sogenannten Optanten. Das waren Südtiroler, die sich für die Auswanderung ins „Deutsche Reich“ entschieden hatten. Trina und ihre Familie dagegen wollen bleiben, auch wenn ihnen dann die faschistische Italienisierung droht. In „Katakombenschulen“ unterrichtet Trina Deutsch.

Der alte Plan vom Stausee

Nach den Faschisten kommen die Nazis, eine neue Bedrohung, der sich Trina und ihr Mann durch die Flucht in die Berge entziehen. Doch auch der Frieden bringt keine Ruhe. Jetzt endlich soll der Plan zu einem Stausee, der seit 1911 in den Köpfen der Verantwortlichen geisterte, verwirklicht werden. Trinas Mann und der Pfarrer organisierten Proteste, sie wollen Graun und ihre Welt retten. Vergeblich. Wieder muss sich Trina entscheiden…
Marco Balzano gibt mit der Ich-Erzählerin Trina den Menschen von Reschen und Graun eine Stimme. Er holt die alte Geschichte von der Option aus der Vergessenheit, lässt ahnen, wie hart das Leben der Südtiroler zwischen Faschisten und Nazis war und warum der Widerstand noch lange nach dem Friedensschluss und der Annektion seine Anhänger fand. Dass ausgerechnet ein Italiener diese schmerzhafte Geschichte erzählt, gibt aber auch Hoffnung, dass die Wunden allmählich heilen.

Hineingelesen…

… in Trinas Gedankenwelt

„Im Sommer gehe ich oft hinunter und spaziere ein bisschen am Stausee entlang. Die Anlage liefert sehr wenig Energie. Es ist viel günstiger, den Strom bei den französischen Atomkraftwerken zu kaufen. Im Laufe weniger Jahre ist der aus dem Wasser ragende Kirchturm zu einer Touristenattraktion geworden. Die Sommerfrischler staunen zuerst und wandern dann bald unbekümmert weiter. Sie machen Fotos mit dem Turm im Hintergrund und setzen alles das gleich blöde Lächeln auf. Als wären unter dem Wasser nicht die Wurzeln der alten Lärchen, die Fundamente unserer Häuser, der Platz, auf dem wir uns versammelten. Als hätte es die Geschichte nicht gegeben.
Alles erweckt einen merkwürdigen Anschein von Normalität. Auf den Fensterbrettern und Balkonen wachsen wieder Geranien, an den Fenstern haben wir Baumwollgardinen aufgehängt. Die Häuser, in denen wir heute wohnen, sehen genauso aus wie in jedem beliebigen anderen Alpendorf. Wenn die Ferienzeit zu Ende ist, herrscht auf den Straßen eine unangreifbare Stille, die vielleicht nichts mehr verbirgt. Auch die Wunden, die nicht heilen, hören früher oder später zu bluten auf. Die Wut, sogar die über die erlittene Gewalt, ist wie alles dazu bestimmt, nachzulassen, sich etwas Größerem zu fügen, dessen Namen ich nicht kenne. Man müsste die Berge befragen können, um zu erfahren, was hier geschehen ist.“

Info: Marco Balzano.  Ich bleibe hier,  Diogenes,  288 S., 22 Euro

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