Liebe, Krieg und Chaos

21. März 2022

Nino Haratischwili,  der Name ist Garant für eine eher selten gewordene Leidenschaft am Erzählen.  Auch diesmal. Ein Buch, schwer wie ein Backstein, das auch manchmal schwer im Magen liegt. Doch Nino Haratischwilis neuer gewichtiger Roman „Das mangelnde Licht“ ist auch ein Buch, das man kaum aus der Hand legen will, ein mitreißender Roman trotz der allgegenwärtigen Gewalt, von der er – auch – erzählt. Die in Georgien geborene Nino Haratischwili, die schon mit ihrer Familiensaga „Das achte Leben für Brilka“ überzeugt hatte, zeigt sich in diesem Roman über die Umbruchszeit der 1980er und 1990er Jahre wieder als großartige Autorin.

Beklemmend aktuell

Man könnte ihr vielleicht ihre überbordende Erzähllust vorwerfen, ihre geringe Scheu vor Klischees, Metaphern und der Verwendung von Adjektiven. Aber all das ist marginal angesichts der beklemmenden Aktualität und der spannenden Konstruktion dieses Romans. Es ist eine Fotoausstellung in Brüssel, bei der sich drei der vier georgischen Freundinnen nach Jahrzehnten wieder treffen. Und anhand dieser Fotos nimmt die Ich-Erzählerin, die Restaurateurin Keto die Leser mit in ihre Heimat und in ihre Kindheit in der Hauptstadt Tbilissi.

Ein Spiegel der Gesellschaft

Aufgewachsen ist Keto mit ihrem nach dem Tod der Mutter geistig stets abwesenden Vater, zwei hoch gebildeten Großmüttern und dem labilen Bruder Rati. Das Häusergeviert, in dem auch die Freundinnen zuhause sind, ist mit seinen mafiösen Strukturen ein Spiegelbild der damaligen georgischen Gesellschaft – in der Seele verwundet durch Kriegs- und Mangelerfahrung. Im Konflikt um Abchasien werden lebenshungrige junge Männer und Familienväter zu menschlichen Wracks. Ein Schicksal, das auch den jungen Soldaten droht, die in der Ukraine erstmals eine Waffe in der Hand halten.

Der Tod und die Erinnerung

Dina, die Fotografin, hat diese Tragödie in ihren Fotografien festgehalten und alles andere auch. Das Leben, die Leidenschaft, den Tod. Ihm hat sie oft ins Auge gesehen, dass sie schließlich das Leben nicht mehr ertragen hat. Nun müssen die Freundinnen ohne sie, die immer die Fäden in der Hand gehalten hatte, die so ansteckend war mit ihrer Lebenslust, weiter existieren. Beim Betrachten der Fotos erinnern sie sich an gemeinsame Zeiten. Glückliche und unbeschwerte Abenteuer, zu denen Dina sie überredet hatte wie den nächtlichen Einbruch in den Zoo, schreckliche Erlebnisse wie Mord und Vergewaltigung, Drogen und Krieg. Und an die eigenen Wunden, die selbst verschuldeten und die, die ihnen das Leben zugefügt hat. An die Zurückgebliebenen und die Toten.

Kriminelle Strukturen

Die superkluge Ira, die sich schon als Mädchen in die kokette Nene, die Nichte des Paten von Tbilissi, verliebt hat, und die später versucht hat, die Freundin aus den Klauen der kriminellen Familie zu befreien, erkennt zu spät die Folgen ihrer „guten Tat“. Und Nene, von Kind an im Familienverbund für die weibliche Opferrolle erzogen, hat ihre Rebellion gegen die, die ihren Geliebten ermordet haben, auf ihre Verführungskünste reduziert.

Liebe in Zeiten des Terrors

Auch Keto, Dinas beste Freundin, oszilliert zwischen den Welten und kann sich nicht mit einem bürgerlichen Leben abfinden. Zu stark wirken die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend nach: „Meine Liebe habe ich in einer Welt zurückgelassen, die nicht mehr existiert und die mich heute Abend von diesen imposanten Wänden angestarrt hat. Ich habe sie an einem Ort zurückgelassen, an dem ich niemals zurückkehren werde, bei Menschen, die nur noch als Schatten in meinem Kopf existieren. Meine Liebe, und ich bin mir sicher, es wird auch das Los von Ira und Nene sein, ist eine Dinosaurierliebe, eine ausgestorbene Art von Liebe, eine, die schmutzig und brutal ist, eine Liebe, die in Messerattacken, blutige Wunden und Schüsse mündet, eine die gewohnt ist, Verbote und Schranken zu umgehen, es ist eine Chamäleonliebe, die lügen muss, um zu überleben, ja, so muss es wohl sein. Unsere Liebe kennt keine Freiheit und Sorglosigkeit, sie ist nicht leicht und schon gar nicht zivilisiert, sie kennt keine Unbeschwertheit.“

Die Schatten der Vergangenheit

Nino Haratischwili verwebt mit leichter Hand die Einzelschicksale ihrer Protagonistinnen mit der georgischen Geschichte, sie weckt den Zeitgeist von einst, der seine Schatten noch immer auf die Gegenwart wirft und beschreibt auch den Kampf, den vor allem Frauen führen mussten und müssen, um sich aus der Opferrolle zu befreien.

Schicksal der Frauen

Als die schöne Anna nach einer Vergewaltigung in den Wahnsinn flüchtet, fragt Keto anklagend nach dem Warum. Und Anna antwortet: „Weil wir Frauen es aushalten.“ Keto will es nicht aushalten, sie will ihr Leben selbst bestimmt leben und nicht im mangelnden Licht der alten Heimat. Mit ihrem fast rauschhaften Roman bringt Nino Haratischwili Licht ins Dunkel einer Kriegsgeschichte, die beinahe schon wieder vergessen ist. Dabei schreibt sie so lebensprall und süffig, dass man ihr gerne in sämtliche Windungen der Geschichte folgt, ja bis hinein in ihre Abgründe.

Hineingelesen…

… ins Kriegsgeschehen

Am ersten September 1993, mit dem Ende der Sommerferien, gingen die Kinder in Abchasien wie gewohnt zur Schule. Der Frieden schien fragil, aber die Menschen waren so ermattet und dürsteten so sehr nach einem Stück Normalität, dass sie sich bereitwillig dieser dürftigen, illusorischen Ruhe hingaben, die sie als die neue Normalität akzeptieren. Tausende Vertriebene kehrten auf Geheiß der Regierung in ihre Häuser zurück. Die georgische Artillerie, die Panzer und Geschütze wurden zurückbeordert. Der vom russischen Stab erarbeitete Sturmplan sah die Einkesselung der Stadt vor. Am 16. September eröffneten Abchasier das Feuer. Die so genannte russische Friedensmission unternahm keine Versuche, diesen Sturm abzuwehren. Die Abchasier erhielten vollen Zugriff auf das russische Waffenarsenal und die Bomber. Das Hauptziel aber war, das Regierungsgebäude einzunehmen und alle georgischen Regierungsvertreter zu liquidieren. Dina entkam diesem Inferno dank der Unterstützung eines französischen Evakuierungsteams. Diese drei Wochen, die sie in Sochumi verbracht hatte, machten die Veränderungen ihres Wesens unwiderruflich.
Wie auch nach dem letzten Mal im Frühjahr verlor sie nicht viele Worte über ihre Albträume, aber sie brachte all diese die Luft abschnürenden Bilder zurück nach Tbilissi.

Info Nino Haratischwili. Das mangelnde Licht, Frankfurter Verlagsanstalt, 832 S., 34 Euro

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