Liebe statt Mord

11. Oktober 2021

Nicola Förg hat sich als Krimi-Autorin einen gewissen Ruf erschrieben. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass die Autorin auch eine engagierte Tierfreundin ist. In ihrem neuen Roman, der überraschenderweise kein Krimi ist, kann man das nicht überlesen. Hintertristerweiher ist ein Familienroman geworden, der sich über 80 Jahre erstreckt und an den unterschiedlichsten Orten spielt und auch von einer großen, unerfüllten Liebe erzählt.

Ein Tod und ein großes Erbe

Am Anfang steht ein Tod: Die Französin Isabelle hat sich für den Freitod in der Schweiz entschieden und hinterlässt ihrer Nichte Aurelie ein großes Erbe. Doch es gibt eine Bedingung: Um das ganze Erbe zu bekommen – auch die Latifundien am Meer in Frankreich -, muss Aurelie ein Jahr lang den Tiergnadenhof und die dazu gehörige Seegaststätte am Hintertristerweiher weiterführen. Eine Zumutung, findet Aurelies Ehemann Eike, bis er erfährt, wie groß das Erbe wirklich ist und seine Frau dazu drängt, es doch anzunehmen. Das kann nicht gut gehen…

Die Toten erzählen Geschichte

Doch in dem Roman geht es nicht nur um die Lebenden, auch die Toten erzählen Geschichte, vom Weltkrieg, von Kriegsgefangenen, dem Holocaust – und einer Liebe in gefährlichen Zeiten. Förg wechselt die Zeitebenen wie die Plätze springt vor und zurück in ihrer Familiengeschichte, hin und her zwischen dem Allgäu, dem fränkischen Ochsenfurt und Frankreich. Auch wenn große Teile des Buches in der NS-Zeit spielen, verzichtet die Autorin auf eine Bewertung – sie lässt ihre Protagonisten sprechen.

Seelenverwandtschaft und Sinnsuche

Aurelie etwa muss erkennen, dass sie viel zu wenig mit ihrer Tante über deren Vergangenheit gesprochen hat – so wie wohl die meisten der Nachkriegskinder. Erst bei der Arbeit am Hintertrister Weiher kommt sie der Verstorbenen wieder nahe und erkennt auch eine gewissen Seelenverwandtschaft. Wie ein Puzzle lässt sich Isabelles Geschichte Stück für Stück zusammensetzen. Doch je mehr sie in die Vergangenheit eintaucht, desto klarer wird Aurelie, dass ihrem eigenen Leben der Sinn abhanden gekommen ist. Sie wird sich neu orientieren müssen.

Neu-Entdeckung für Förg-Fans

Wie immer hat Nicola Förg auch in diese Romanstruktur aktuelle Probleme eingewebt: die Flüchtlingsfrage etwa, Tierschutz vor allem und auch die Frage, wie sich Tourismus und Naturschutz vertragen. Für Förg-Fans ist dieser Roman ohne Mord und Totschlag sicher eine Neu-Entdeckung.

Hineingelesen…

… in Aurelies Gedankenwelt

Später saß sie im Dunkeln mit Anton und ein paar Katzen auf der Terrasse und genoss die Einsamkeit. Mit dem Abzug der Touristen war die große Stille zurückgekehrt, hatte sich herausgetraut hinter den Nadelbäumen, war aus den Nebelschwaden gekrochen, die nun morgens über dem See lagen.
Auf einmal verstand sie die Einheimischen, die über die Gäste wetterten. Keine Wohnmobile mehr auf den Waldwegen, keine Lagerfeuer bei höchster Waldbrandstufe und kein Unrat. Die Bäckerin wurde gesprächig und zutraulich, im Supermarkt konnte man in den Gängen stehen und plaudern. Sie alle hatten sich geduckt, die Köpfe eingezogen und verstellt für den Tourismus, der für die regionale Wirtschaft so wichtig war und den man doch so sehr verachtete.
Natürlich kamen an den Wochenenden ein paar Wanderer und Zweitwohnungsleute wie die Augsburger. Nach fünf Tagen Ruhe bot das sogar eine nette Abwechslung. Noch nie hatte Aurelie ein so stilles Leben gehabt, denn da waren immer Eike und die Kinder gewesen. Sie begann, kleine Wanderungen zu unternehmen, dann auch größere, und es war Marie, die sie einlud, mit ihr und Beni die „Jahreswanderung“ zu unternehmen. Es war bei ihnen eine Familientradition auf den Hochgrat zu gehen. Aurelie war sich sicher, dass die beiden ihretwegen die einfache Aufstiegsvariante gewählt hatten, und sie war innerlich dankbar, denn die Wanderung war auch so noch anstrengend genug. Als sie oben waren, klebten die verschwitzten Haare im Nacken, und sie machte ein Foto vom Gipfelkreuz, diesem eigentümlichen Konstrukt aus verrosteten Stahlblechstreifen – der Eiffelturm von Oberstaufen aus dem Jahre 1901. Die Aussicht war gewaltig, sie machte bescheiden und klein.
„Der Hochgrat ist ein ganz spezieller Berg“, erzählte Marie. „Er hat sich bisher allen Zivilisationsversuchen widersetzt. In den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts wollte man über den Hochgrat eine Straße nach Balderschwang bauen, doch der Ort wurde später stattdessen über den Riedbergpass angebunden. Und aus dem Plan, ein Luxushotel am Gipfel zu errichten, ist bisher auch nichts geworden.“
Diese Menschen, die starke Marie, der feine Beni, waren fest in der Region verwurzelt und liebten ihre Heimat bedingungslos. Doch so schön es hier auch war – es war nicht ihre Heimat, dachte Aurelie. Aber wo war eigentlich ihr Zuhause? Sie hatte in der Picardie gelebt, das war lange her. Sie hatte schöne Erinnerungen an den Genfer See. Sie hatte einen Bezug zur Vendée. Sie war gerne in Hamburg gewesen. Alles Eckpunkte , aber keine Heimat. München war am ehesten ihre Heimat, dachte sie. Spaziergänge im Nymphenburger Park, eine große Brezn im Hirschgarten. Shopping in der Hohenzollernstraße. Mit dem Rad in die Menterschwaige. Ein Konzert in der Olympiahalle. Tollwood im Sommer und im Winter. Lesungen im Literaturhaus. Frühstück im Ruffini. Sie war eine Städterin, womöglich etwas heimatlos, aber sie wollte sich dafür auch nicht entschuldigen müssen.

Info Nicola Förg, Hintertristerweiher, Piper, 400 S., 15 Euro

 

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