Schwierige Reise zum Ich

26. Januar 2023

Mit den 1976 erschienenen „Mitteilungen an den Adel“ hat sich Elisabeth Plessen, eigentlich Elisabeth Charlotte Marguerite Auguste Gräfin von Plessen, einen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur gesichert. Auch im Roman „Die Unerwünschte“ (2019) setzt sich die Autorin mit ihrer Herkunft und dem Bedeutungsverlust des Adels auseinander. Nun also ein neues Buch „Die Frau in den Bäumen“. Und wieder hat der Roman autobiographische Züge. Die Ich-Erzählerin Anna darf wohl als das Alter Ego der Autorin gesehen werden. Erzählt wird eine Art Heldenreise der End-Zwanzigerin, die im italienischen Süden lernen muss, sich zu emanzipieren.

Blitzschlag in der Idylle

Anna ist mit ihrem doppelt so alten Freund – ein Vaterersatz? – unterwegs. Der literarisch gebildete Journalist will ihr sein Italien auf Goethes Spuren zeigen. Die sich im Ferienhaus einnistende Apathie wird durch die Nachricht vom Tod des Vaters und einen darauffolgenden Blitzeinschlag regelrecht zerschmettert. Das Paar sucht Schutz bei einem befreundeten schwulen Musikliebhaber, der sich mit einem Buch über Beethoven abplagt. In seinem gastfreundlichen Haus lernt Anna den jungen und schönen Matteo kennen, Kameramann mit dem Ehrgeiz zu Größerem. Auch Matteo arbeitet an einem ambitionierten Projekt, einem Film über Che Guevara.

Unklare Zukunft

Anna folgt dem Matteo nach Rom und später auf eine Insel, wo er von Bewunderern umgeben ist. Es ist eine Liebe ohne Zukunft, auch wenn es am Anfang anders aussieht. Hin und wieder sucht die junge Frau in ihren Gefühlswirren Zuflucht bei Roberto, unterstützt ihn bei seinem Buchprojekt, bis eine unbedachte Äußerung zum Bruch führt. Schließlich kehrt Anna zurück nach Berlin in die gemeinsame Wohnung mit Leo. Sie ist nicht mehr dieselbe wie vor der Reise, aber noch ist unklar, wohin ihr weiterer Weg sie führen wird.

Menschen mit Privilegien

Es sind kluge Leute, von denen dieses Buch handelt, Menschen, die in Diskussionen nicht mit literarischen Verweisen und Kunstkenntnis geizen. Menschen, die von sich überzeugt sind und die weniger Privilegierten, weniger Schönen mit Herablassung begegnen.

Über die Hässlichkeit

Eine befremdliche Passage des Buches befasst sich dem  aktuellen Straßenbild: „Manchmal überkommt mich ein unerklärlicher Hass auf die Hässlichkeit, wenn ein Leib so vollständig achtlos geworden ist, verbaut. Ich muss mich beherrschen, um über die schamlosen Blick der Vorbeiziehenden nicht auszuflippen, Männer und Frauen mit ihren schamlosen Körpern, zu lang, zu kurz, schlecht proportioniert, die Oberschenkel zu kurz, der Oberkörper ein Wanst, die Schultern zu schmächtig, gar keine Schultern, in sich eingestürzt, der Gang ist alles, nur nicht aufrecht. Der Pimmel zu klein, die Möse zu groß, da wird nie was darauf, da ist keine Lust im Spiel, ein übles Statussymbol nach dem anderen starrt mich dumm an, trabt an mir unglücklich vorbei. Männer, Frauen, zu fett, kein Becken, zu viel Busen, zu viel Hintern, zu kurz der Hals, zu rund, geradezu stierhaft, alles verunstaltet. Alles schreit nach Unzufriedenheit, dem Schönheitschirurgen dem Sarg. In dem jetzt mein Vater liegt… Man muss seinen Blick schonen, man ihn ihn abwenden. Und wenn von der Hässlichkeit gesprochen werden muss, muss auch von der Schönheit gesprochen werden, doch jetzt spreche ich nicht von der Schönheit, spreche nicht vom Schönheitsideal, ich spreche von der Zersetzung, diktiert vom geistzersetzenden Zeitgeist.“

Schwule Freunde und eine rätselhafte Alte

Dabei gibt sich die junge Frau im Umfeld von Roberto und seinen schwulen Freunden fast gönnerhaft: „Das Leben ist kein Schönheitswettbewerb.“
Als Pendant zum jugendlichen Überschwang der Heldin führt Elisabeth Plessen „die Alte“ ein, eine philosophierende, scheinbar allgegenwärtige Bettlerin.

Schwieriger Zugang

Elisabeth Plessen hat auch dieses Buch mit Erinnerungen gefüllt, sie schreibt über Naturfrevel in Südamerika und Ches Wandlung vom Arzt zum Terroristen, und sie liefert wunderbare Naturstudien. Aber so richtig mitnehmen kann die Autorin die Lesenden mit ihrer Reise zum Ich nicht. Zuviel sich selbst feiernde Intellektualität erschwert den Zugang zu den handelnden Personen – auch zu der Ich-Erzählerin.

Info Elisabeth Plessen. Die Frau in den Bäumen, Piper, 192 S., 22 Euro

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