Dorf ohne Jugend
Rezensionen , Romane / 13. April 2022

Den Debütpreis der lit.Cologne hat Sven Pfizenmaier nicht bekommen,  obwohl sein  Erstling „Draußen feiern die Leute“ ebenso aktuell wie aufsehenerregend ist. Hunderttausende Ukrainer sind derzeit auf der Flucht. Wie werden sie hier leben? In einem fremden Land mit fremder Kultur? Nicht immer gelingt die Integration. Mit Witz und Scharfsinn erzählt Sven Pfizenmaier in seinem Debüt auch von Anpassungsschwierigkeiten der Einwanderer. So wundert sich die Russlanddeutsche Valerie darüber, „dass ihre Eltern ihre frühere Welt konserviert und in diesem Haus wieder aufgebaut haben“. Außenseiter  unter sich Sie ist nicht allein als Außenseiterin in diesem ungewöhnlichen Dorfjugendroman, der von einer Teenager-Clique erzählt. Unangepasst sind sie alle irgendwie: Richard, der auf andere wie eine Schlaftablette wirkt. Timo mit seiner grünlichen Pflanzenhaut. Die Träumerin Valerie, die ihr halbes Leben verschläft. Schmauser, immer gut für einen Exzess. Und dann sind da noch die drei Dorfgauner Dima, Danik und Doktor Dobrin, auch sie mit Migrationshintergrund aus Kasachstan und nie so recht in Deutschland angekommen. Rasputin und die Verschwundenen Das Zwiebelfest bringt sie alle zusammen – im Rausch. Doch einige fehlen, sind einfach weg, verschwunden. Wie die Schwester von Jenny, Richards Freundin. Auch Jenny will weg aus dem Dorf, vielleicht ihre Schwester finden. Die Spur führt nach Hannover und…

Vergewaltigt
Rezensionen / 21. Mai 2021

„Warum hast du nicht geschrien?“ fragte die Freundin, der Sophie Hardcastle von der Vergewaltigung durch ihren Freund erzählte. „Warum hast du nicht geschrien?“ fragt auch einer der Mitsegler auf dem Boot, nachdem Olivia verstört auftaucht. „Unter Deck“ so der Titel des Romans greift diese oft gestellte Frage auf und beantwortet sie auch. Was hätte es genutzt, wenn sie geschrien hätte, denkt Oli. Unter Deck hätte sie keiner gehört. Und wie ihr bleibt sexuell bedrängten Frauen oft der Schrei im Hals stecken. Dem Meer verfallen Olivia, die schon von ihrem Freund Adam gegen ihren Willen zum Sex „verführt“ worden war und sich dann von ihm trennte, hätte es eigentlich besser wissen müssen. Doch nach einer überaus harmonischen Erfahrung mit dem alten Mac und seiner charismatischen Freundin Maggie auf See, ist sie der Magie des Meeres verfallen und kommt vom Segeln nicht mehr los. Deshalb heuert sie auch auf dem Segelschiff von Vlad und seinen Kumpanen an. Fünf Männer und eine Frau Alle auf den ersten Blick ziemlich sympathisch, ja attraktiv. Vor allem von AJ fühlt sich Olivia angezogen, auch wenn es Cam ist, der ihr ganz offen Avancen macht. Nach einer gemeinsamen Nachtwache passiert es dann: AJ nimmt sich, was er…

Missstimmung im Ferienhaus
Allgemein / 13. Mai 2021

Max Küng seziert gern seine Mitmenschen – als Kolumnist und als Buchautor.  So auch im Roman „Fremde Freunde“. Ein Haus in Frankreich: Wer träumt nicht davon. Jean und Jacqueline haben ihren Traum verwirklicht, aber ihnen laufen die Kosten davon. Warum also nicht Freunde an dem Feriensitz in der französischen Provinz teilhaben lassen? Das Paar lädt die Eltern der Freunde ihres Sohnes auf eine gemeinsame Woche in ihr Haus ein, und Jean verwöhnt die Gaumen seiner Gäste mit enthusiastischer Kochkunst. Gegensätzliche Charaktere Alles sieht gut aus, auch wenn die Paare nicht unbedingt harmonieren. Da sind die herbe und selbstbewusste Graphikerin Veronika und ihr Noch-Ehemann, der wortkarge Zahnarzt Bernhard. Der Gegensatz zu der unsicheren Sängerin Salome und dem von sich überzeugten aber nicht ganz so erfolgreichen Schauspieler Filipp könnte nicht größer sein. Und dann die Gastgeber: Der rundliche Genussmensch Jean und seine etwas naive Jacqueline. Merkwürdige Ereignisse Ganz allmählich schleichen sich Zweifel an dem Projekt ein, merkwürdige Ereignisse stören die oberflächliche Harmonie. Misstrauen keimt auf. Die Spannungen zwischen Veronika und Bernhard trüben die Ferienlaune, und Veronikas ungeniert zur Schau getragene Attraktivität bringt Filipps und Jeans Hormonhaushalt in Wallung, während Filipps ausgestellte Männlichkeit Jacquelines Träume beflügelt. Fremde in Frankreich Max Küng beschreibt in…

Tod in der Wüste
Rezensionen / 15. März 2021

Laila Lalami  wurde in Rabat geboren und lebt in den Vereinigten Staaten. In ihrem bewegenden Roman „Die Anderen“  schreibt sie über die Folgen auch latenter Xenophobie.  Der mehrstimmige  Nachruf auf einen  Mann, der vor seinem Bistro in der Mojave-Wüste angefahren und getötet wurde, wurde vom Time Magazine als eines der besten Bücher des Jahres bewertet . Denn Laila Lalami erforscht darin unaufgeregt aber eindrücklich das Leben von Menschen abseits des amerikanischen Mainstreams. Zweifel an der Unfall-Version Die Tochter des Opfers, Nora,  mag nicht glauben, dass es ein Unfall war. Obwohl integriert, hat die Familie doch immer das Gefühl gehabt, nicht dazu zu gehören, „Die Anderen“ zu sein. Und der Erfolg, den der Vater – Driss – mit seinem Restaurant hatte, erregte wohl auch den Neid der Nachbarn. Nora erinnert sich an einen Brandanschlag. Die Musikstudentin war ihrem Vater immer sehr nah anders als ihre Schwester Salma, die als Zahnärztin gutes Geld verdient. Eine neue Existenz Für die Mutter hat Salma erreicht, wonach sie selbst gestrebt hat, als die Familie von Marokko in die USA auswanderte.  Das Leben in der Heimat war unsicher geworden, vor allem für Regimekritiker wie Driss. Mit einem heruntergewirtschafteten Donut-Shop neben einer Bowling-Bahn baut der Philosophiestudent für…

Der Charme der Unauffälligkeit
Rezensionen / 18. März 2020

Anne Tyler kann meisterhaft von den kleinen Dingen des Alltags erzählen.  Das tut sie auch in ihrem neuen Roman „Der Sinn des Ganzen“: Micah ist kein Traummann, eher einer, den man gern übersieht. Einer, der sich klein macht, der nicht auffallen will. Fast symbolisch lebt er im Souterrain in einer bescheidenen Absteige, die er allerdings pedantisch sauber hält. Seine Tage sind durchstrukturiert. Erstaunlich, dass er trotzdem noch Zeit hat für seine Freundin, Cass, eine Lehrerin. Die beiden passen eigentlich gut zusammen, denn Cass kommt auch bei Micahs Familie gut an. Micahs  Welt gerät in Unordnung Aber dann macht Micah das ganze schöne Arrangement zunichte. Einfach so, weil er nicht richtig zuhört, weil er gedankenlos ist. Cass hat ihm davon berichtet, dass sie womöglich ihre Wohnung verlieren könnte. Und er? Hat keinen Ratschlag, nur leere Worte. Und dann taucht Brink auf, der Sohn von Micahs Jugendliebe, und bringt Micahs geordnete Welt durcheinander und Cass auf die Palme. Die Freundin verlässt ihn, die Familie wundert sich, und Micah wird eine unangenehme Wahrheit bewusst: „Er hatte niemanden.“ Leere Tage und keine Aussicht auf Besserung Brink ist nicht sein Sohn und die Jugendliebe verheiratet. Die Schwestern leben ihr eigenes Leben, und Micahs Tage sind…

Schmerzhafte Grenzüberschreitung
Rezensionen / 3. Februar 2020

Der Defekt ist am Anfang nur für sie spürbar.  Aber Vetko  scheint  mehr zu wissen als andere. Sie müsse sich fügen, sagt der seltsame Junge  zu Mina. 16 Jahre ist sie alt, als sie dem 18-jährigen Einzelgänger näher kommt. Da erschießt Vetko seinen Hund vor ihren Augen. Mina ist schockiert – und fasziniert. Und ganz allmählich erkennt sie, dass sie anders ist als ihre Mitschüler, anders als ihre beste Freundin und ihre Eltern. Leona Stahlmann beschreibt in ihrem Roman  Der Defekt  die Suche Minas nach ihrer Identität, nach dem, was sie befriedigt. Erinnerung in Narben und blauen Flecken Es ist etwas anderes als normaler Geschlechtsverkehr, das weiß sie. Und es ist etwas, das sie immer wieder erleben will. Ein Einverständnis, das zwei Menschen zu einer Einheit schmiedet. Und Vetko gibt den Takt vor: „Mit jeder Narbe, jedem blauen Fleck kannst du die Zeit dehnen,“ sagte er zum Abschied. „Wie lang dauert durchschnittlicher Sex, fünfzehn Minuten? Wir hören nie auf damit, solang unsere Körper sich erinnern, eine Narbe von mir auf dir, und du wirst noch in zehn Jahren mit mir schlafen, wenn du sie ansiehst.“ Süchtig nach Gehorsam Mina weiß, dass sie und Vetko Grenzen überschreiten – und sie ist…

Flucht ins Ungewisse
Rezensionen / 10. August 2018

Es ist Anne Tylers 22. Roman und auch in „Launen der Zeit“ spricht die mittlerweile 76-jährige Chronistin des amerikanischen Mittelstands aus jeder Zeile. Wieder einmal geht es um schwierige Familienverhältnisse und die Flucht daraus. Schuldgefühle seit der Kindheit Das Leben der Hauptfigur Willa Drake erzählt Tyler in vier Episoden, die sie zwischen 1967 – da ist Willa elf – und 2017 ansiedelt. Willa ist nett und unauffällig, hilfsbereit und voller Schuldgefühle. Die hat sie seit ihrer Kindheit, die geprägt war durch die häufige Abwesenheit der Mutter und die Unzulänglichkeit des allzu sanftmütigen Vaters. Ein alltägliches Leben Derek, der Ehemann ist ganz anders, ein Machotyp, der Willa dominiert. Sie bricht ihr Studium ab, zieht nach Kalifornien und wird Mutter zweier Söhne. Ein ganz und gar alltägliches Leben, bis Derek durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird und Willa mit einem neuen Schuldkomplex zurücklässt. Auch dem zweiten Ehemann, Peter, fällt es leicht, diese von Selbstzweifeln geplagte Frau zu dominieren. In einer Golfsiedlung in Tuscon Arizona wird der Lebensabend geplant, auch wenn Willa nicht golfen kann, weil sie einfach unsportlich ist. Flucht aus dem Golf-Getto Doch dann tut sich per Zufall ein Hintertürchen auf, das dieser unterschätzten Hausfrau die Flucht aus dem…

Patchwork und Pubertät
Rezensionen / 21. August 2017

Francesca Segal ist die Tochter von Erich Segal, der mit „Love Story“ einen Mega-Seller geschrieben hatte. Die 37-Jährige scheint das Schreib-Talent ihres Vaters geerbt zu haben, nicht aber dessen Hang zum Melodram. Schon ihr erster Roman „Die Arglosen“ zeigt, dass es der Journalistin, die in Oxford und Harvard studiert hat, die Komplexität der menschlichen Natur angetan hat. Von Liebesdreieck zum Quartett Ging es da um eine Art Liebesdreieck, bei dem sich der Protagonist zwischen zwei gegensätzlichen Frauen hin- und hergerissen sieht, arrangiert Segal in ihrem neuen Roman „Ein sonderbares Alter“ ein Quartett. Auf der einen Seite zwei Erwachsene, die verwitwete Julia und den geschiedenen James, die den Rest ihres Lebens gemeinsam genießen wollen, auf der anderen Seite ihre Kinder Gwen und Nathan, beide an der Schwelle zum Erwachsenen-Alter und entsprechend renitent. Es fängt schon gut an: „Die Teenager würden wieder alles kaputt machen.“ So lautet der erste Satz – und so geht es weiter, bis Julia und James die eigene Liebe infrage stellen. Pubertät und Patchwork befeuern sich gegenseitig, bis es zur Explosion kommt. Jenseits aller rosigen Patchwork-Klischees  Um das ungleiche Quartett herum hat Segal weiteres Personal gruppiert, das sie ebenso sorgfältig skizziert wie ihre Hauptfiguren: Julias ungleiche Schwiegereltern, James‘ flippige…

Der ganz normale Wahnsinn
Rezensionen / 29. Dezember 2016

Es fängt eher kurios an: mit einer Gurkenscheibe, dem Relikt eines Gin Tonics. Max Küng spannt seine Leser ganz schön auf die Folter, bis er zur Sache kommt – dem Haus, das entmietet werden soll. Die fünf Mietparteien, die um den Verbleib in dem Haus in der (fiktiven) Züricher Lienhardstraße bangen, skizziert er allerdings auch noch im Prolog, der wohl zeigen soll, wie das Kleinste mit dem Größten zusammenhängt. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der Hausbesitzer möchte die Wohnungen sanieren und später teurer vermieten. Dagegen laufen die Mieter Sturm, und sie schließen sich – obwohl höchst unterschiedlich – zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammen. Unter normalen Umständen würde den eitlen Moderator Tim Gutjahr und den glücklosen Immobilienmakler Fabio ebenso wenig verbinden wie die Kunststudentin Delphine und die Klatsch-Journalistin Paola oder die labile Alleinerziehende Virginia. Die drohende Kündigung wirkt wie eine Katharsis Doch die drohende Kündigung überwindet zunächst alle Schranken. Gemeinsam wird überlebt, wie man juristisch gegen die Kündigung vorgehen könnte. Ausgerechnet bei einer Unterredung unter den Männern öffnet Fabio einen Glückskeks mit dem Spruch „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“ – womit der Titel des Buches erklärt wäre. Doch das Unglück hat schon im Haus begonnen. Alle Bewohner stecken…