Der Charme der Unauffälligkeit

18. März 2020

Anne Tyler kann meisterhaft von den kleinen Dingen des Alltags erzählen.  Das tut sie auch in ihrem neuen Roman „Der Sinn des Ganzen“: Micah ist kein Traummann, eher einer, den man gern übersieht. Einer, der sich klein macht, der nicht auffallen will. Fast symbolisch lebt er im Souterrain in einer bescheidenen Absteige, die er allerdings pedantisch sauber hält. Seine Tage sind durchstrukturiert. Erstaunlich, dass er trotzdem noch Zeit hat für seine Freundin, Cass, eine Lehrerin. Die beiden passen eigentlich gut zusammen, denn Cass kommt auch bei Micahs Familie gut an.

Micahs  Welt gerät in Unordnung

Aber dann macht Micah das ganze schöne Arrangement zunichte. Einfach so, weil er nicht richtig zuhört, weil er gedankenlos ist. Cass hat ihm davon berichtet, dass sie womöglich ihre Wohnung verlieren könnte. Und er? Hat keinen Ratschlag, nur leere Worte. Und dann taucht Brink auf, der Sohn von Micahs Jugendliebe, und bringt Micahs geordnete Welt durcheinander und Cass auf die Palme. Die Freundin verlässt ihn, die Familie wundert sich, und Micah wird eine unangenehme Wahrheit bewusst: „Er hatte niemanden.“

Leere Tage und keine Aussicht auf Besserung

Brink ist nicht sein Sohn und die Jugendliebe verheiratet. Die Schwestern leben ihr eigenes Leben, und Micahs Tage sind leer: „Er… „nahm sich viel Zeit für ein gemütliches Frühstück. Danach fiel ihm nichts mehr ein, was er sich hätte gönnen können. Fernsehen? Da kamen nur Talkshows. Ein Buch lesen? Alles, was herumlag, hatte er längst durch.“ Irgendetwas hat er falsch gemacht in seinem Leben. „Mein einziger Fehler war, zu erwarten, alles würde perfekt sein“, erkennt Micah. Zeit zu handeln, vielleicht sogar neu anzufangen.

Viel Empathie fürs Alltägliche

Anne Tyler, versiert in der literarischen Erhöhung von Alltäglichem, schildert das Leben dieses ganz und gar alltäglichen Menschen mit soviel Empathie, dass er im Lauf des kleinen Romans sogar sympathisch wird. „Ja, man wüsste wirklich gern, was im Kopf eines solcher Mannes vor sich geht. Eines so verbohrten, beschränkten, abgeschottet lebenden Menschen. Er hat nichts, worauf er sich freuen, nichts, wovon er mit offenen Augen träumen kann“, schreibt sie zwischendrin. Dabei hat sie ihren Lesern schon längst gezeigt, was in Micahs Kopf vor sich geht – auf ihre ganz eigene unaufgeregte Art.
Info: Anne Tyler. Der Sinn des Ganzen, Kein & Aber, 223 S., 24 Euro

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