Asche der Erinnerung

23. Februar 2023

„Meine Funktion war sehr einfach: Leiche rein, Asche raus, Knochenreste im Kremulator zermahlen.“ Der da spricht ist Pjotr Nesterenko, Gründer und Leiter des Moskauer Krematoriums, und als Ich-Erzähler in Sasha Filipenkos Roman Kremulator  genannt. Der belarussische Autor siedelt seinen gleichnamigen Roman in der Zeit der stalinistischen Säuberungen an. Nesterenko wird der Spionage für eine feindliche Macht beschuldigt und ausführlichen Verhören unterzogen. Er muss wohl mit der Todesstrafe rechnen. Trotzdem verlaufen die Verhöre „nicht frei von Komik“, wie der Angeklagte notiert.

Bühne für persönliche Rückschau

Ganz unschuldig daran ist Nesterenko daran nicht. Er nutzt die Verhöre auch als Bühne für seine ganz  persönliche Rückschau. Denn der Mann war nicht nur der Gründer des Moskauer Krematoriums, er stammt aus altem Adel, hat für die Weißrussen gekämpft,  war in Kiew,  ist in Paris Taxi gefahren, arbeitete  in Istanbul und in Serbien. Kurz, er hat so einiges aus der Welt außerhalb der großen Sowejetunion mitgekriegt.

Geschichte einer großen Liebe

Diese Weltläufigkeit imponiert dem jungen Ermittler Perepeliza und macht ihn doppelt misstrauisch. Was zum Teufel hat diesen Nesterenko dazu getrieben, von einem Ort zum anderen zu reisen, von einem Job zum anderen zu wechseln? Perepeliza ahnt nichts von der großen Liebe, die den Angeklagten seit seiner Kindheit beflügelt. Von seiner Suche nach Vera, der Frau seines Lebens. Von der kurzen Zeit der Liebeswonnen in Paris und der langen Zeit der vergeblichen Suche. Vera ist es auch, für die Nesterenko seine Notizen schreibt. Sie ist die eigentliche Adressatin seiner verworrenen Gedanken und verwirrenden Erzählungen.

Schwerstarbeit im Krematorium

Aber auch Perepeliza soll beeindruckt werden, wenn der Angeklagte berichtet, welche Polit- und andere Größen er ins Feuer geschickt hat und wie viele Erschossene in einer Nacht „kremiert“ werden mussten. Wenn er davon berichtet, wie schlecht die Henker oft zielten und dass so mancher Henker selbst im Verbrennungsofen landete.  Leichen am Fließband hieß Schwerstarbeit im Krematorium. Für den Kremulator hat der Tod seine Schrecken verloren – auch der eigene und der seiner Geliebten.

Parallelen zur Gegenwart

Manchmal stockt einem bei der Lektüre der Atem, so aktuell erscheinen manche Passagen in diesem Buch. Unübersehbar sind die Parallelen zur Gegenwart. Wie sagt der Alte, Nesterenkos Gesprächspartner in Paris: „Die größten Probleme Russlands sind das Aber und das Komma. Wir setzen Kommas, wo längst ein Punkt stehen müsste… Anstelle eines Punktes setzen wir immer wieder ein Komma und machen weiter. Man soll nicht töten, aber.. Man soll nicht foltern, aber… Wir wissen, dass wir sträflich Unrecht haben, aber…“

Museum für Anatomie

Messerscharf und mit bitterbösem Witz schreibt Filipenko über ein Land, das seine Bürger zu willigen Erfüllungsgehilfen degradiert, weil ihnen das Denken abhanden gekommen ist. Ein Land auch, in dem die Liebe zum Alptraum wird. Wie die Erinnerung an den Krieg, die Nesterenko nicht aus dem Kopf geht: „Der Krieg ist das erste große Museum, das ich in meinem Leben besuche. Ein Museum für Anatomie. Eine umfassende, reiche Sammlung, die jeden Tag erweitert wird. Mit Millionen von Exponaten! Mit längs und quer zerfetzten Körpern, herausquellenden und zerrissenen Lungen, mit aus Gliedern ragenden Knochen und verstreuten Gedärmen. Mit Armen, Köpfen, Füßen und Schädeln. Unvergesslich die Pupillen, über die Fliegen krabbeln…“

Menschenrechte und Memorial

„Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene“, hat Sasha Filipenko seinem Roman vorangestellt, der auf historischen Dokumenten beruht. Zur Verfügung gestellt wurden sie dem Autor von der Organisation Memorial, die 2022 den Friedensnobelpreis erhielt und die vom Obersten Gericht Russlands verboten wurde. Memorial wurde 1989 gegründet und ist die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation in Russland.

Info Sasha Filipenko. Kremulator, Diogenes, 255 S., 25 Euro

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