Werner Herzog – ein Leben im Ausnahmezustand
Rezensionen , Romane / 22. Dezember 2022

Werner Herzog ist eine Ausnahmeerscheinung – als Regisseur, als Autor und als Mensch. Auch deshalb ist dieses Buch über sein Leben so außergewöhnlich. Herzog erzählt in „Jeder für sich und Gott gegen alle“ nicht linear, er reiht Erinnerungen aneinander. An die Kindheit in Sachrang, wo es nur im Herbst und Winter Schuhe gab und alles „in einem Zustand der Anarchie“ war. An die Frauen in seinem Leben, ohne die sein Leben „ein Nichts gewesen wäre“. Artverwandte Film-Heroen Aber dieses inzwischen 80 Jahre währende Leben war alles andere als ein Nichts. Es hat ihn durch die ganze Welt geführt, hat ihn lebensgefährliche Abenteuer erleben und Freundschaften schließen lassen. Vieles, was er erlebt hat, ist in seine Filme eingeflossen. Und die Heroen dieser Filme, schreibt er, „sind alle artverwandt“, unterschätzte Visionäre wie Echnaton, „er ein halbes Jahrtausend vor Moses eine frühe Form des Monotheismus einführte“. Kinski,  der liebste Feind Immer wieder kommt der alte Herzog auf seine Kindheit zurück, auf die Care Pakete, von denen eines das Buch „Pu der Bär“ enthielt, „eine Offenbarung“. Und dann München in der Nachkriegszeit, ein Abenteuerspielplatz für die Kinder. Später die Wohnung in Schwabing und das erste Zusammentreffen mit Klaus Kinski, der Herzogs „liebster Feind“ wurde….

Loblied auf ein schwieriges Land
Reisebücher , Rezensionen / 22. Dezember 2022

Zu Weihnachten zieht es viele Christen ins Heilige Land. Und damit rückt ein Krisenherd im Nahen Osten wieder ins Bewusstsein. Denn bis heute ist das Heilige Land gespalten ebenso wie Jerusalem. Und immer wieder eskaliert der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Dass das oft nicht an Israel liegt, macht die in Los Angeles lebende israelische Schauspielerin und Produzentin Noa Tishby in ihrem Buch  „Israel“ klar. Israel und seine Geschichte Tishby nennt es einen „Faktencheck über das am meisten missverstandene Land der Welt“. Auf fast 200 Seiten breitet sie die Geschichte ihres Heimatlandes aus – angefangen bei biblischen Zeiten über die zionistische Bewegung, die Rückkehr der Juden während und nach dem Holocaust, die Staatsgründung, die Kibbuz, den Aufbau des Landes unter Ben Gurion, die kriegerischen Auseinandersetzungen, den Terror-Alltag bis in die – unsichere – Gegenwart. Zeitreise und Familiengeheimnisse Tishby nimmt die Lesenden mit auf eine Zeitreise und dröselt die blutigen Konflikte im und um das Heilige Land auf. Dabei integriert sie ihre Familiengeschichte und erzählt – erstaunlich ehrlich – aus dem eigenen Leben. Die Israelin ist eine eloquente Erzählerin, die sich auch moderner Stilmittel zu bedienen weiß. Denn sie will vor allem die Millennials ansprechen, die ihrer Meinung nach mit…

Mörderische Machtspiele
Rezensionen , Romane / 22. Dezember 2022

Sie sind reich, superreich, und mächtig – die sieben Frauen und Männer, die sich zum Bitcoin Komplott verschwören, um eine neue Welt zu gründen. Denn im gleichnamigen Roman von Andreas Brandhorst geht es um nicht weniger als die Weltherrschaft. Und darum kämpfen die Verschwörer mit allen Mitteln – auch gegeneinander. Gefährlicher Bitcoin Lange haben die Staatenlenker tatenlos zugesehen, wie die Unternehmer immer reicher und mächtiger wurden, wie Bitcoin zu einer Art Goldstandard wurde und die Leitwährungen verfielen. Es sieht so aus, als hätten die Sieben leichtes Spiel. Doch irgendwann ist auch die Politik aufgewacht, die Währungshüter sind alarmiert. Im Netz der Verschwörer Das alles interessiert Martin Freeman nur am Rand, denn er will vor allem den Mord an seinen Eltern aufklären, von dem er auf rätselhafte Weise erfahren hat. Und so geraten er und seine Hacker-Freundin Dakota mitten hinein in das Netz, dass die Sieben mit ihrem Bitcoin Komplott  gespannt haben. Während die beiden immer tiefer in die Welt von Bitcoin, Blockchain und KI eintauchen, dezimiert sich die Zahl der Verschwörer. Wer ist Satoshi Nakamoto? Die Gegner sind nicht zimperlich im Umgang mit den Frauen und Männern, die sich durch ihren Reichtum unantastbar wähnten. Aber wo ist die undichte Stelle?…

Sirenengesänge und Seemannsgarn
Rezensionen , Romane / 12. Dezember 2022

Das Meer „ist in jeder Hinsicht immens“, schreibt Richard Hamblyn in der Einleitung zum gleichnamigen Buch – und es ist immens wichtig für Mensch und Tier. Allerdings überfordere es die menschliche Vorstellungskraft. Mit seinem Buch unternimmt der Engländer den Versuch „einer kulturell und geografisch geprägten Reise von den Flussmündungen bis zu den Tiefseegräben“, die mit „wahrscheinlichen Zukunftsszenarien für unsere Maritime Umwelt“ endet. Gormleys  „Another Place“ Seit Homers Zeiten seien „kreative Geister wie besessen vom lockenden Sirenengesang des Meeres“ schreibt Hamblyn und präsentiert solche kreativen Geister wie den Bildhauer Anthony Gormley. Mit seiner beunruhigend realistischen Unterwasser-Installation „Another Place“ rufe Gormley den Untergang verletzlicher Küsten ebenso ins Bewusstsein wie „das Auftauchen der Menschheit aus dem Ozean vor Anbeginn der Zeit“. Strandräuber und Seebäder In den folgenden Kapiteln spürt Richard Hamblyn alten Mythen, Schiffshavarien und Strandräubergeschichten ebenso nach wie modernen Interpretationen von Meeressehnsucht oder dem Klimawandel. Er entwirrt Seemannsgarn und erklärt das moderne SeaSpeak, eine Art Basic English für die Containerschifffahrt. Er beschreibt, wie sich Fischerdörfer in Seebäder verwandelten. Und er erinnert an die „Friendly Floatees“, Plastikschwimmtiere, die von einem havarierten Frachter aus auf Weltreise gingen und neue Erkenntnisse über Meeresströmungen vermittelten. Forschung und Kunst Ein Großteil des Buches widmet sich der Meeresforschung,…

Dublin von unten und von oben
Reisebücher , Rezensionen / 12. Dezember 2022

Noch ein paar Tage Urlaub? Oder Lust auf Stadtentdeckung zwischen den Jahren. Da kommen die Stadtabenteuer aus dem Michael Müller Verlag gerade recht. 2019 kam die erste Staffel heraus, die sich gleich über den ITB-Award freuen konnte. Die Idee, einen Ort nicht anhand seiner Sehenswürdigkeiten sondern durch Erlebnisse zu erkunden, passt ja auch in die Zeit. Und dass so einige der vorgestellten Abenteuer kostenlos und womöglich auch noch familienfreundlich sind, macht sie auch für Menschen mit kleinem Budget interessant. Singende Stadtführung Ganz neu in der Reihe ist Dublin. Judith Weibrecht hat sich in der irischen Hauptstadt umgesehen und ein kuriose wie spannende Tipps gesammelt. Wie wäre es zum Beispiel mit einer gesungenen Stadtführung? Oder mit dem Versuch, in der Christchurch Cathedral eine der 19 Glocken zu läuten? Mit einer Ukulele-Session im Pub Stag‘s Head? Oder einem Bummel entlang der berühmten Dublin Doors? Stadt der Toten Kostenlos ist auch ein Besuch auf dem Glasnevin Friedhof, dem James Joyce in „Ulysses“ ein literarische Denkmal gesetzt hat. 1,5 Millionen Menschen liegen in dieser Stadt der Toten begraben – mehr, als derzeit in Dublin leben. Kletterpartie aufs Stadiondach Die Stadt der Lebenden lässt sich auch vom Fluss Liffey aus erkunden. Vom Kayak aus und…

Russland – schreckliche Heimat
Reisebücher , Rezensionen / 6. Dezember 2022

Nein, diese 20 Erzählungen, die der inzwischen in Berlin lebende russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in dem Buch „Geschichten aus der Heimat“ zusammengefasst hat, sind keine Science Fiction wie sein Bestseller „Metro 2033“. In diesen Geschichten versucht Glukhovsky , sich darüber klar zu werden, was mit Russland passiert ist. Es sind Geschichten aus der russischen Realität noch vor dem Ukraine-Krieg, Geschichten über Menschen, die Teil eines menschenverachtenden Systems sind, das jede Vorstellungskraft sprengt. Ohne Skrupel In „Alles hat seinen Preis“ verfängt sich ein tadschikischer Gastarbeiter in einem skrupellos  gesponnenem Organ-Handelsnetz. In „Sibirische Weisheit“ plagt sich ein Minister in der Mitte des Lebens mit Zukunftsängsten herum, weil er das beste Leben und die größte Machtfülle schon genossen hat. In „Die wichtigste Nachricht“ versucht ein junger Journalist vergeblich, gegen die alles erdrückende Präsidenten-Präsens durchzudringen. Im Rausch des Geldes In „Utopia“ scheitert ein selbstbewusster russischer Oligarch daran, seinen Traum von Paris zu verwirklichen, weil er sich in Frankreich so benimmt wie er es von Russland gewohnt ist: „‚Folgendes, Chef!“ wandte sich Iwan Nikolajewitsch an den Geschäftsfürher, der geradezu unschicklich braun gebrannt war, und steckte ihm einen Fünfhunderter in die Brusttasche. „Besorg uns einen guten Platz, damit ich die Glocken der Weiber gut sehen kann….

Bücher zu Weihnachten
Rezensionen / 6. Dezember 2022

Reisen war lange Zeit in unseren Breiten eine Selbstverständlichkeit. Doch dann kam Corona, und nichts war mehr wie gewohnt. Einreiseverbote, Impfgebote, Maskenpflicht – das Reisen wurde beschwerlicher. Inzwischen sieht es so aus, als käme die alte Reisefreiheit zurück. Doch was ist mit dem Klimawandel, was mit dem Krieg in der Ukraine, der Inflation und was mit möglichen neuen Corona-Varianten? Was immer geht – auch in problematischen Zeiten – sind Reisen im Kopf. Und dazu laden die Bücher ein, die wir aus dem großen Angebot ausgesucht haben. Ob Nostalgiker, Naturfreundin, Wanderer, Fotografin oder Globetrotter – für jeden ist was dabei. Vom Zauber des Lichts German Roamers, das ist eine Community deutscher Landschafts- und Outdoor-Fotografierender. Für den Bildband „Eine Reise mit dem Licht durch Deutschland“ haben sie bekannte und unbekannte Orte zu verschiedenen Tageszeiten und in unterschiedlichster Beleuchtung fotografiert – zwischen Morgen- und Nachtlicht. Das Leipheimer Moos im Nebel etwa, die ersten von Bäumen gefilterten Sonnenstrahlen im Taunus, Nebelschleier am Allgäuer Bannwaldsee, vergoldete Hügel in der Pfalz, ein Wintermorgen in Berlin und viele, viele Sonnenaufgänge. Das Licht verwandelt das Vertraute, Sonnen- und Mondaufgänge lassen Gewohntes magisch erscheinen. Aber auch Tageslicht kann verzaubern, wenn man weiß, wie man harte Schatten vermeidet. Tipps für…

Alice ohne Wunderland
Rezensionen , Romane / 29. November 2022

Rebecca Wait schreibt gern über Familien,  auch in ihrem neuen Roman „Meine bessere Schwester“.  Und wie heißt es so schön bei Tolstoi: „…jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“. Die Familie von Alice und Hanna ist besonders unglücklich. Das liegt schon am Erbe der Mutter Celia. Das eher hässliche und schüchterne Mädchen stand lange im Schatten ihrer schönen und klugen Schwester Katy, bis diese in die Schizophrenie abdriftete. Ihr Schicksal hängt fortan wie eine dunkle Wolke über der Familie. Die freudlose Celia krallt sich in ihrer Verzweiflung den Freund ihrer einzigen Freundin, Paul. Dominante Mutter Neben den Zwillingen Alice und Hanna haben den beiden noch den wenig auffälligen und eher gefühlsarmen Sohn Michael. Celia wird zu einer dominanten Mutter, die in der Furcht lebt, ihre Kinder könnten die Schizophrenie ihrer Schwester geerbt haben. Irgendwann entflieht Paul dem lieblosen Haushalt in die Arme einer jüngeren Frau. Ungleiche Zwillinge Trotz des häuslichen Elends steht die hübsche Hanna meist im Mittelpunkt einer großen Freundeschar. Aber der unscheinbaren Alice droht ein ähnliches Schicksal wie Celia, ein Leben ohne Freunde und ohne Liebe: Alice ohne Wunderland. Doch dann scheint sich bei Hanna Katys Erbe zu manifestieren. Die lebenslustige junge Frau verfällt in eine tiefe…

Klimawandel und Kuriositäten
Reisebücher , Rezensionen / 28. November 2022

„Kuriose Karten, die Ihre Sicht auf unsere Umwelt verändern“ verspricht Der  Atlas für Naturfreunde. Und im Vorwort erinnert sich Chris Packham daran, das der Atlas für ihn als Kind „die Welt auf Papier“ war. Auch die 100 Karten dieses Atlas zeigen die Welt in ihrer Vielfalt – verstörend wie die zur Auswirkung des Klimawandels, amüsant wie die Karte mit den Hunderassen. Auch Karten aus grauer Vorzeit sind dabei wie „Die Ausbreitung des Menschen und das Aussterben großer Landsäugetiere“. Staaten als Goldgräber Es ist spannend, durch die Seiten zu blättern und über die schön gestalteten Karten auch viel über die Geschichte zu erfahren, zum Beispiel zum Vormarsch der Bauern ab 8000 v. Chr. bis 1850. Oder verdeutlicht zu sehen, welche Länder am meisten Wasser besitzen und welche Staaten die wahren Goldgräber sind. Für die Zukunft nicht uninteressant sind Karten zu Hotspots dieser Erde, die zur künftigen Energieversorgung beitragen könnten. Leichtgewicht Hummelfledermaus China als Rekordhalter beim Knoblauchanbau und beim Gemüse-Verzehr, die USA als Truthahn -Dorado und Brasilien mit den meisten Rindern: Es gibt so einiges zu entdecken auf diesen Karten. Auch im Tierreich, etwa den winzigsten Gecko, der gerade mal 1,6 Zentimeter misst, oder das kleinste Säugetier der Welt, die gerade mal…

Cote d’Azur statt Allgäu
Rezensionen , Romane / 22. November 2022

Klüpfel und Kobr sind ausgewandert – in wärmere Gefilde. Cote d’Azur statt Allgäu. Und den Kluftinger haben sie zurück gelassen. Das  Allgäuer Autorenduo will sich ganz offensichtlich neue Gefilde erschließen. „Die Unverbesserlichen“ heißt der gerade erschienene Roman, wobei der Untertitel mehr verspricht als das Buch hält. Denn „Der grosse Coup des Monsieur Lipaire“ entpuppt sich als Gaunerstück mit glücklichem Ausgang. Lipaire alias Liebherr Tatsächlich hat der Deutsche, der nach dem Scheitern seiner Ehe und seiner beruflichen Tätigkeit als Apotheker, in Port Grimaud an der Cote eine neue Heimat gefunden hat, mehr Glück als Verstand. Guillaume Lipaire nennt er sich, Wilhelm Liebherr hieß er in seiner deutschen Vergangenheit. Aber als Guillaume fühlt er sich französischer als so mancher Franzose, zumal er sich zugute hält, auszusehen wie Alain Delon in seinen späteren Jahren. Sein Geld verdient er als Hausmeister für die Inhaber von Zweitwohnsitzen und -Villen, die er hin und wieder zweckentfremdet und an Touristen vermietet. Kleine Gaunereien Auch der junge Karim, als Wassertaxifahrer unterwegs, nutzt sein Gefährt zwischendurch für private Zwecke. Die beiden verbindet fast eine Vater-Sohn-Beziehung. Und als Lipaire glaubt, einem Schatz auf der Spur zu sein, weiht er Karim ein. Doch es bleibt nicht bei den beiden. Mit Pudel…