Viel faul in Indien

25. Mai 2022

Der Inder Rahul Raina nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, was faul ist im Staat Indien. Sein Roman „Bekenntnisse eines Betrügers“ ist deshalb auch nichts für naive Indien-Versteher. Indien-Kenner freilich werden Rainas Schelmenroman mit Vergnügen lesen. Denn der junge Autor nutzt jede Gelegenheit, die Schwächen des Staates zu entlarven, der sich die größte Demokratie der Welt nennt: Korruption, Kastenunwesen, Dreck, Armut und die Neigung zu Massenhysterie.

 Chancenlos in der Klassengesellschaft

Auch die Geschichte des jungen Ich-Erzählers Ramesh, der mutterlos bei seinem gewalttätigen Vater auf- und dank einer unerschrockenen französischen Nonne zu einem intelligenten jungen Mann heranwächst, ist eine typisch indische. Denn Ramesh, der am liebsten im Sinn seiner Wohltäterin ein Studium absolviert hätte, hat keine Chance auf einen Aufstieg in Indiens Klassengesellschaft.

Erkaufte Karriere

Stattdessen verhilft der hochintelligente  Ramesh aus Geldnot dem verwöhnten und faulen Söhnchen eines gut situierten Paares zu einem Abschluss als Bester der Nation.  (Gekaufte Titel sind in Indien wohl an der Tagesordnung.)  Für den dicklichen und eher dümmlichen Rudrash, genannt Rudi, beginnt damit eine atemberaubende Karriere als Quiz-Moderator. Und Ramesh profitiert als dessen Assistent vom neuen Wohlleben. Doch die Konkurrenz schläft nicht – die beiden werden gekidnappt.

Sündenbock Ramesh

Was dann folgt, ist eine kaum mehr nachvollziehbare Serie von gegenseitigem Kidnapping, bei dem die Opfer zu Tätern werden und umgekehrt. Am Ende muss Ramesh wieder einmal als Sündenbock herhalten. Kein Wunder, dass er nach seiner Entlassung aus der Haft die Nase voll hat von Indien. Er wandert nach Texas aus und macht dort eine steile Karriere mit einem Retreat für Aussteiger auf Zeit. Was dem Autor ausgiebig Gelegenheit gibt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit „westlichen Werten“.

Viel Slapstick

Der kaltschnäuzige Ramesh ist zwar kein Sympathieträger wie der junge Jamal, der als Slumdog Millionaire die Herzen eines Millionenpublikums erobert hat. Aber sein Kinderschicksal geht zu Herzen. Auf einige der Entführungswirren hätte man allerdings gern verzichtet. Da hat es Rahul  Raina  mit Slapstick-Szenen übertrieben. Dafür verschont er die Lesenden von einem Bollywood-Happy-End.

Hineingelesen…

… in Rameshs Delhi

Es war ein anderes Indien hier. Ich war erst seit einigen Monaten weg, um das neue High Life zu leben. Trotzdem, ich hatte mich schon an die andere Seite gewöhnt, obwohl sie höchstens vier, fünf Meilen entfernt war?
Klimaanlagen, Fahrer, bewaffnete Wachleute vor den Geschäften und umzäunten Wohnkomplexen. In den Läden dort war es wie in einem blitzsauberen Himmel, übervölkert mit hilfsbereitem Personal, äußerst liebenswert in seiner vollkommenen Verlogenheit.
Aber das hier war mein Indien. Hier gab es faulige Gerüche. Schlachter, die vor deinen Augen Hühnerhälse durchhackten, während die kleinen Mistflitzer krächzend das Leben aushauchten, hier musste man sich mit Zähnen und Klauen den Weg zur Theke bahnen, um bedient zu werden, hier gab es nach Einbruch der Dunkelheit unerklärliche Geräusche, potenziell giftige Gerüche, Schreie der Lust und des Schmerzes.
Und das war noch der nettere Teil, der strebsame Untere-Mittelschicht-Teil Delhis, das Delhi, das im Kommen war, das Halbfertige-Metro-Delhi, für das ich drei Jahre lang hatte schuften müssen, um mir eine Wohnung leisten zu können. Ich rede nicht einmal über die wirklich üblen Gegenden, wo selbst ich noch nie war, wo die Menschen lebten wie Mücken auf dem Hodensack eines Lemuren, wo allen Zähne, Organe oder Beine fehlten, wo nichts besser wurde, selbst wenn die BIPs und die HDIs auf sämtlichen PowerPoint-Folien der Vereinten Nationen nach oben wiesen, immer nur nach oben.

Info Rahul Raina. Bekenntnisse eines Betrügers, Kein & Aber, 400 S., 25 Euro

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