Ein neuer Hiob
Rezensionen , Romane / 15. September 2021

„Du bist wirklich ein Kolibri“, schreibt die Freundin aus Kindertagen dem Augenarzt Marco Carrera. „Du bist ein Kolibri, weil Du wie die Kolibris, deine ganze Energie dafür verwendest auf der Stelle zu bleiben. Siebzig Flügelschläge in der Sekunde, um zu bleiben, wo Du bereits bist. Du bist großartig darin. Du schaffst es, in der Welt und in der Zeit anzuhalten. Du schafft es, die Welt und die Zeit um Dich herum anzuhalten, und manchmal schaffst Du es sogar, in der Zeit zurückzugehen, um die verlorene Zeit wiederzufinden, so wie der Kolibri fähig ist, rückwärts zu fliegen.“ „Der Kolibri“ heißt denn auch Sandro Veronesis neuer Roman über drei Generationen Familiengeschichte, für den der Italiener den renommierten Premio Strega erhielt. Unbarmherziges Schicksal Doch diese Generationengeschichte muss aus vielen Splittern zusammengesetzt werden, aus Briefen, Rückblenden, Gesprächen, Gedichten, philosophischen Abhandlungen. So erfährt man, dass Marco als Jugendlicher kleinwüchsig war und nur durch ärztliche Behandlung ein normales Wachstum erfuhr. Auch daher rührt der Name Kolibri. Dieser Kolibri wird im Lauf des Romans immer mehr zu einer Art neuem Hiob. So sehr er sich auch bemüht, das Schicksal schlägt immer wieder unbarmherzig zu. Wobei es auch positive Momente gibt – als der junge Carrera durch einen…

Herbstliche Himmelsstürmerei
Reisebücher , Rezensionen / 14. September 2021

Spätsommer und Herbst sind die beste Zeit für Wanderungen in den Bergen – zum Beispiel auf der Himmelsstürmer Route in den Allgäuer Alpen. „Es ist vor allem das Zusammenspiel von frischem Grün, lauschigen Mischwäldern, klaren Bergseen sowie schroffen Felsbergen, die die Region um die Himmelsstürmer Route zu einer der beliebtesten Urlaubsregionen Deutschlands macht“, schreibt Maximilian Kress im Vorwort zum Rother-Wanderführer „Himmelsstürmer-Route“. Unterschiedliche Schwierigkeitsgrade Danach geht‘s gleich los mit den Top-Touren zum Beispiel mit dem „Wächter des Allgäus“, dem Grünten, in Verbindung mit der Starzlachklamm oder dem Oytal und dem Seealpsee, der Vilsalpseerunde oder dem Hochgrat. Doch weil es in den Bergen schnell gefährlich werden kann – die meisten Bergunfälle ereignen sich schließlich beim Bergwandern – folgen erst einmal Hinweise zu den Schwierigkeitsgraten. Denn nicht jede Tour ist für jeden geeignet. Trittsicherheit ist wichtig Die Tour um den Grünten ist als mittelschwer gekennzeichnet und eignet sich mit langen Steilstücken vor allem für „konditionsstarke Bergwanderer“, die in der Starzlachklamm auch Trittsicherheit mitbringen. Schwierig – also schwarz – ist die Tour Oytal und Seealpsee markiert, da das Gelände „extrem abschüssig“ ist und drahtseilgesicherte Felsstellen nur für geübte Wanderer zu empfehlen sind. Auch die Vilsalpseerunde wartet mit einem steilen Aufstieg auf und mitunter ausgesetztem…

Traumprojekt Alpenüberquerung
Reisebücher , Rezensionen / 7. September 2021

Der Freund war immer dabei, als die junge Fotografin Miriam Mayer Pläne schmiedete, ihr persönliches Traumprojekt zu verwirklichen. Ein Jahr lang planten und trainierten die beiden für die 30 Tage, die sie für das Projekt veranschlagt hatten. Trotzdem, so gesteht Mayer, war die Verwirklichung „ein Sprung ins kalte Wasser“. Verlassen der Komfortzone Denn ganz so einfach ist das Verlassen der Komfortzone nicht. Aber der Weg vom Vorgarten in die Berge hat sich gelohnt, auch wenn Muskelkater und Blasen dem Paar das Bergsteigen erschwerten und statt Sonnenschein hin und wieder Regen und Nebel die Begleiter waren. Trotzdem oder gerade deshalb entstanden nahezu magische Bilder und theatralische Lichtstimmungen, die mehr als einen Blick wert sind. Wechselhaftes Wetter Nebelfetzen über Gipfeln, drohende Wolkenberge, flirrendes Sonnenlicht, Mondlandschaften und Geröll, zarte Blüten und ein fantastischer Sternenhimmel. Das wechselhafte Wetter in den Bergen stellt die Fotografin vor immer neue Herausforderungen. Planbar ist da nichts. Die begleitenden Texte sind ehrlich und vielleicht auch hilfreich für Menschen, die ähnliche Pläne und auch eine Bergseele haben. Zufluchtsorte  und Suchtpotential Mayer schreibt über Hütten als Zufluchtsort, über ungemütliche Zeltnächte, eine Übernachtung in einer Biwakschachtel, kurzfristiges Versteigen, einen Wintereinbruch und über das Glück der Frühaufsteher: „Es ist einfach etwas ganz Besonderes,…

Mehr Nachhaltigkeit beim Reisen
Rezensionen / 30. August 2021

Nachhaltigkeit ist das Gebot der Stunde, das wissen auch Touristen. Doch wie reist man nachhaltig? Jacqueline Albers versucht in ihrem Buch „Gute Reise“ eine Antwort: „Nachhaltiges Reisen bedeutet, dass wir vor Ort einen wirtschaftlichen Beitrag leisten, die Umwelt schützen sowie behutsam mit den Menschen und ihrer Kultur umgehen. Unsere Zufriedenheit ist dabei genauso wichtig“, stellt sie gleich am Anfang klar. Und ergänzt: „Nachhaltiges Reisen setzt keine Verbote.“ Es komme nur auf die Umsetzung an, und dafür liefere ihr Buch praktische Anleitungen. Nicht reisen wäre ein Verlust Denn: „Nicht reisen ist nicht nachhaltig. Es wäre ein riesiger Verlust.“ Damit das Reiseerlebnis für alle Seiten zufriedenstellend ist, ist die Vorbereitung wichtig. Albers gibt konkrete Ratschläge zur medizinischen (Impfungen!) aber auch zur kulturellen (Do‘s and Dont‘s) Vorbereitung, untermauert von netten Reise-Anekdoten. Es gibt Tipps fürs Reisegepäck (kulturell angemessene Kleidung, wieder verwendbare Flaschen und Beutel) und für die digitale Reisemappe, eine Übersicht über die Nachhaltigkeits-Labels und Hinweise auf entsprechende Posts sowie eine Übersicht über die CO²-Emissionen der unterschiedlichen Verkehrsmittel. Keine engen Vorgaben Auch Experten kommen zum Thema Nachhaltigkeit immer wieder zu Wort. Und am Ende einzelner Kapitel fordert „Der gute Reiseplan“ dazu auf, eigene Überlegungen über Reise-Art und Inhalt oder die Vorbereitungen zur Reise…

Ella, Rose und die Hoffnung
Rezensionen / 30. August 2021

Lucy Adlington hat sich von einer wahren Geschichte zu ihrem aufwühlenden Roman „Das Rote Band der Hoffnung“ inspirieren lassen. In dem Buch erzählt sie die fiktive Geschichte von Ella und Rose und anderen Mädchen, die in einer KZ-Schneiderei Kleider für die Aufseherinnen und die Frauen der SS-Leute anfertigten. Dichtung und Wahrheit sind hier eng beieinander. Zebras und Eichhörnchen Lucy Adlington lässt Ella erzählen, eine 15-Jährige, die von der Straße weg nach Birkenau deportiert wurde. Der anfangs eher schnoddrige Ton hilft ebenso dabei, das Grauen in Schach zu halten, das die qualmenden Kamine von Auschwitz verströmen, wie Ellas Angewohnheit, die anderen Mädchen mit Tieren zu vergleichen. Zebras sind alle Frauen wegen der gestreiften Häftlingskleidung. Und Rose, das zarte immer höfliche und rücksichtsvolle Mädchen, erinnert die robustere Ella an ein Eichhörnchen. Überleben mit Nähkunst Dass sie und Rose im Lager unzertrennliche Freundinnen werden würden, ahnt sie am Anfang nicht. Das elternlose Mädchen will sich ohne Rücksicht auf die anderen einen Platz in der Näherei erobern, und das schafft sie auch. Eine ganze Zeit lang kann sie die strenge Mina und die Aufseherinnen mit ihre Nähkunst überzeugen, und Rose ist ihr dabei eine große Hilfe. Doch das KZ fordert Opfer. Die Aufseherinnen sind…

Gefährliche Freunde
Rezensionen / 26. August 2021

Freunde  sind wichtig im Leben.  Das wissen auch schon kleine Kinder.  Und Mika musste gerade seinen besten Freund zurücklassen. Denn sein  Papa Paul ist wegen seiner neuen Liebe umgezogen.  Nun muss Mika sich nicht nur mit einer neuen Frau – Greta -, sondern auch noch mit einer neuen Klasse anfreunden. Tony und Jack würde er gern zu Freunden haben, das dunkellockige Mädchen und den unerschrockenen Jungen. Statt dessen sitzt der Brillenträger Arvid neben ihm, ein Außenseiter wie er und ziemlich nervig, wie Mika findet. Mutprobe mit Folgen Als Tony und Jack, die Unzertrennlichen, ihn zu einer Spritztour einladen, ist er geflasht. Doch ganz schlau wird er aus den beiden nicht. Und die Mutprobe, auf die sie ihn stellen, ist auch nicht lustig. Wollen sie nur mit ihm spielen? Doch schon beim nächsten Mal ist er wieder dabei, und wieder verlangt Jack eine Mutprobe, die Tony diesmal allerdings verhindert. Und dann ist da diese Obdachlose in der alten Fabrik, dem ganz privaten Spielplatz von Tony und Jack. Brutaler Denkzettel Dass sie sich da eingenistet hat, wollen die beiden nicht akzeptieren. Sie beschließen, der Alten einen Denkzettel zu verpassen, und Mika soll mitmachen. Es kommt zu einem Ausbruch der Gewalt, die auch…

Nackte Tatsachen
Rezensionen / 26. August 2021

Nacktheit hat längst Eingang in die Kunst gefunden, eindrucksvoll in der aktuellen „Maria Stuart“-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, in der 30 nackte Männer ein lebendes Labyrinth bilden. Oder beim Fotografen Spencer Tunick, der seine Landschaften mit Nackten inszeniert, Bodyscapes genannt. Marc Engelhardt war einer davon. Nun hat der Auslandskorrespondent ein Buch über „eine Reise zu den unverhüllten Kulturen unserer Welt“ geschrieben. Irreführender Titel Das peinlichste an dem Buch ist der Titel. „Ich bin dann mal nackt“ erinnert nicht nur an Hape Kerkelings Superseller „Ich bin dann mal weg“, sondern führt auch noch in die Irre. Denn diese 14 Kapitel zwischen Wipperfürth und New York sind weit mehr als ein amüsanter Erlebnisbericht. Marc Engelhardt hat sich nicht nur selbst in der Naturisten- und Nudistenszene umgesehen, er hat sich auch in die philosophischen und politischen Hintergründe eingelesen. Die Idee zum Buch, so schreibt er im Vorwort, war: „einmal die Welt zu bereisen, den unverhüllten Kulturen und Traditionen auf dem Globus hinterher“. Nackt im Wald und im Museum Was er herausfand: „Nackt sein, das ist ein globaler Trend“ – auch wenn das einzige Nacktrestaurant in Paris schon wieder geschlossen ist. Mal wird die Nacktheit als Lebenskunst empfunden, mal als Protest, mal als Ausnahmezustand….

Im Fadenkreuz der Erinnerung
Rezensionen / 23. August 2021

Alex Schulman hat sich von eigenen Kindheitserinnerungen zu dem Roman „Die Überlebenden“ inspirieren lassen. In Schweden war das Buch wochenlang die Nummer 1. Bei dtv ist die Herz zerreißende Geschichte dreier Brüder der Spitzentitel im Herbstprogramm. Sie haben sich auseinander gelebt, die Brüder Benjamin, Pierre und Nils. Dabei haben sie im Sommerhaus ihrer Kindheit alles miteinander geteilt. Vor allem Pierre und Benjamin waren unzertrennlich. Was ist passiert, fragt sich Benjamin, was hat die Familie zerstört? Rückkehr ins Sommerhaus Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder zum Sommerhaus zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Die Rückkehr in die raue Natur wird zu einer Reise durch die Zeit. Benjamin erkennt alles wieder, jeden Stein, jeden Baum. Er trägt den Wald in sich. Und er erinnert sich – an die Umspannstation und das Summen des Stroms. Es sind fragmentierte Erinnerungen an einen Unfall, seinen Unfall, der alles verändert hat. Bruchstücke der Erinnerung Seitdem ist das Leben der Eltern aus der Bahn gesprungen, hat übermäßiger Alkoholgenuss den Verstand der Mutter vernebelt und ganz allmählich die Familie zerstört. Im Kampf um die mütterliche Liebe wurden die Söhne zu Rivalen, die sich gegenseitig belauerten. Das haben sie bis heute nicht vergessen. Immer wieder bricht sich…

Tierische Gedankenwelt
Rezensionen / 23. August 2021

Wäre es nicht toll, wenn wir verstehen könnten, was Tiere so denken? Evie kann das. Sie hat „die Gabe“, wie ihr Dad und ihre Oma ihr verraten haben. Doch beide wissen, dass diese Gabe tödlich sein kann. Evies Mutter kam im Amazonas-Regenwald ums Leben, weil sie den Tieren dort helfen wollte. Und auch Evies Leben ist in Gefahr. Deshalb bittet ihr Vater sie, möglichst niemandem von ihrem Talent zu erzählen. Außenseiterin in der Klasse Aber wie soll das gehen, wenn ein kleiner Junge, der selbst die „Gabe“ hat, im Löwengehege in Todesgefahr gerät? Evie muss ihm einfach helfen. Dass sie sich damit selbst in Gefahr begibt und außerdem zur Lachnummer in der Schule macht, nimmt sie in Kauf. Längst schon hat sie ihre Freundin Leonora an Instagram verloren. Statt für Tiere interessiert sich Leonora nur mehr für Shoppen und Klicks. Da kann Evie nicht mithalten, sie wird in ihrer Klasse zur Außenseiterin. Wäre nicht der Junge Ramesh mit den langen dunklen Haaren, sie hätte gar keine Freunde mehr. Tödliche Gefahr aus der Ferne Doch alles ändert sich auf einen Schlag. Die Kunde von Evies guter Tat im Zoo ist bis an den Amazonas gedrungen und hat den Todfeind ihrer Mutter…

Paul Heyse und München
Rezensionen / 21. August 2021

Paul Heyse?  Wer kennt  noch den Namen und weiß, dass dieser Mann als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur erhalten hat.  Allein schon deshalb ist die Idee aller Ehren wert: Mit seinem Roman „Am Götterbaum“ will Hans Pleschinski den Dichter  aus der Vergessenheit holen. Fährt man in München durch die gleichnamige Unterführung, wird man kaum glauben, dass sie nach einem ehemals weltberühmten und geachteten Autor benannt ist. Götterbaum und Villa Dabei gäbe es wohl die – allerdings bewohnte – Heyse-Villa, in der sich zu Lebzeiten des Autors die Künstlerszene Münchens traf. Auch Thomas Mann, Theodor Fontane und Franz von Lenbach waren dort willkommene Gäste. Pleschinski ließ sich von der immer wieder vom Abbruch bedrohten Villa und dem im weitläufigen Garten stehenden „Götterbaum“ zu einem Gedankenexperiment inspirieren: Was wäre, wenn die Stadt München aus der Villa ein „Paul-Heyse-Zentrum“ machen wollte? Heyse-Strophen auf den Lippen Im Vorfeld dieser fiktiven Umgestaltung schickt er eine Stadtbaurätin, eine Schriftstellerin und eine durch einen Skiunfall behinderte Archivarin zu einem Ortstermin mit einem Heyse-Experten durch die Stadt. Mit „Heyse-Strophen auf den Lippen“ flanieren sie durch das heutige München, streiten über das Werk von Paul Heyse und machen sich ihre Gedanken zur aktuellen Entwicklung der Stadt. Betulicher Tonfall…