Vom indischen Elefanten
Rezensionen / 14. Februar 2020

Der Subkontinent ist nach China das bevölkerungsreichste Land der Erde und wohl auch das rätselhafteste. Wie viele Reisende ist auch der Schwede Per J.  Andersson der Faszination Indiens erlegen: „Ich bin wie besessen davon, den westlichen Lesern Indiens ungeheure Vielfalt von widersprüchlichen Eindrücken zu beschreiben“, notiert er im Vorwort zu seinem Buch „Vom Elefanten, der das Tanzen lernte“. Wie auf einem anderen Planeten Als er das erste Mal in Indien war, fühlte sich der junge Mann wie auf einem anderen Planeten. Danach ist er immer wieder nach Indien zurückgekehrt, obwohl er stets „mit dem Gefühl nach Hause gereist ist, dass ich von dem Land die Schnauze voll habe“. Die Sehnsucht nach dem „anderen Planeten“ ließ ihn nicht los. Und so hat Per J.  Andersson Indien erkundet, hat mit reichen und armen Indern gesprochen, war in Bombay und in Bollywood, in Indiens Süden und im Norden des Subkontinents. Ein Land der Widersprüche In seinem Buch beschreibt er nicht nur die unendlichen Widersprüche dieses vielsprachigen Landes mit seinem verwirrenden Götterhimmel, den Kasten und den seltsamen Ritualen. Er schreibt auch über die lange Geschichte Indiens, seine Hochkultur, die englische Kolonisation, den legendären Freiheitskampf unter Mahatma Gandhi und die schmerzhafte Trennung von Pakistan, die…

Mit lonely planet den Horizont erweitern?
Rezensionen / 8. Februar 2020

Noch immer gilt lonely planet als die Bibel für abenteuerlustige Individualisten. Der neue Band „Der Sinn des Reisens“ empfiehlt sich als „deine Bucket List für gutes Reisen“ und enthält tatsächlich einige Tipps für nachhaltige Erlebnisse wie „Im Naturschutz aktiv sein“, „Ohne Plastik reisen“ oder „Ein Land zu Fuß durchqueren“. Auch lonely planet preist die Wirksamkeit von Waldbaden   oder feiert  Wasser als „pure Lebensfreude“.  Denn schon die Nähe zu Wasser kann sogar „Zerbrochenes heilen“, wie der Meeresbiologe Wallace Nichols in seinem Buch „Blue Mind“ verkündet. Dorfleben und Sternenhimmel Empfohlen werden auch Reisen, bei denen man an einem Ort verweilt und womöglich ins Dorfleben eintauchen kann oder Übernachtungen unterm Sternenhimmel etwa beim Wüstencamping in Namibia. „Das Universum füttert unsere Seele – ganz umsonst“ heißt es dazu – wenn man denn die Reise nach Namibia oder in den Himalaya nicht dazu rechnet. Auch sonst wundert sich der geneigte Leser manchmal, zum Beispiel, wenn „Reisen im eigenen Land“ als Beitrag zum Umweltschutz gelobt werden und man dazu Tipps für Trips in den USA, Australien und Schottland findet. Aber das liegt halt daran, dass dieser Sammelband von lonely planet auf der englischen Ausgabe „Travel Goals 2019“ fußt. Kraftplätze und Pilgerziele Natürlich finden aufmerksame Leser trotzdem…

Schmerzhafte Grenzüberschreitung
Rezensionen / 3. Februar 2020

Der Defekt ist am Anfang nur für sie spürbar.  Aber Vetko  scheint  mehr zu wissen als andere. Sie müsse sich fügen, sagt der seltsame Junge  zu Mina. 16 Jahre ist sie alt, als sie dem 18-jährigen Einzelgänger näher kommt. Da erschießt Vetko seinen Hund vor ihren Augen. Mina ist schockiert – und fasziniert. Und ganz allmählich erkennt sie, dass sie anders ist als ihre Mitschüler, anders als ihre beste Freundin und ihre Eltern. Leona Stahlmann beschreibt in ihrem Roman  Der Defekt  die Suche Minas nach ihrer Identität, nach dem, was sie befriedigt. Erinnerung in Narben und blauen Flecken Es ist etwas anderes als normaler Geschlechtsverkehr, das weiß sie. Und es ist etwas, das sie immer wieder erleben will. Ein Einverständnis, das zwei Menschen zu einer Einheit schmiedet. Und Vetko gibt den Takt vor: „Mit jeder Narbe, jedem blauen Fleck kannst du die Zeit dehnen,“ sagte er zum Abschied. „Wie lang dauert durchschnittlicher Sex, fünfzehn Minuten? Wir hören nie auf damit, solang unsere Körper sich erinnern, eine Narbe von mir auf dir, und du wirst noch in zehn Jahren mit mir schlafen, wenn du sie ansiehst.“ Süchtig nach Gehorsam Mina weiß, dass sie und Vetko Grenzen überschreiten – und sie ist…

Ermittlerpaar mit kleinen Mängeln
Rezensionen / 22. Januar 2020

Holger Karsten Schmidt, der als Gil Ribeiro mit der „Lost in Fuseta“-Krimireihe einen Kommissar mit Asperger-Syndrom nach Portugal schickte, hat für seinen neuen Krimi  „Die Toten von Marnow“ ein ganz außergewöhnliches Ermittler-Paar geschaffen, dem es gelingt, trotz so mancher Gesetzesübertretung den Lesern ans Herz zu wachsen. Die Grenzen verwischen, aber diese Rostocker Kommissare haben ihre Gründe für die Grenzüberschreitungen. Private Probleme und deutsch-deutsche Geschichte Da ist Frank Elling, Durchschnittsbürger und Vater einer Tochter, der für seine kapriziöse Frau einen Riesenpool in den Garten bauen lässt und sich dabei finanziell ganz schön übernimmt. Dass sein ganzes Privatleben ins Rutschen gerät, hat aber nicht nur damit zu tun. Und da ist die attraktive aber undurchsichtige Lona Mendt, die in einem Wohnmobil lebt und scheinbar niemanden an sich heranlassen will. Die beiden so unterschiedlichen Menschen ergänzen sich aber gut im Dienst, denn sie können beide ihrer Intuition vertrauen – und sich auf einander verlassen. Das ist besonders wichtig in diesem Fall, der tief in die deutsch-deutsche Geschichte hineinreicht. Was verbindet die Opfer? Daran denkt noch niemand, als der erste Tote gefunden wird. Ein Arbeitsloser, dem der Mörder die Kehle durchgeschnitten hatte. War er auch ein Kinderschänder? Einiges weist darauf hin. Auch eine für…

Die Cazalets in Zeiten des Krieges
Rezensionen / 12. Januar 2020

Die Cazalets  ist eine groß angelegte Familiensaga von Elizabeth Jane Howard.  Die Autorin  hatte ein langes, bewegtes Leben, das sie wohl teilweise auch in ihren Büchern verarbeitete. 1923 in einer wohlhabende Holzhändlerfamilie geboren, fühlte sie sich von der Mutter ungeliebt. Die Ehe der Eltern scheiterte. Nach einem kurzen Versuch, Schauspielerin zu werden, heiratete sie mit 19 Jahren den Naturforscher und Marineoffizier Peter Scott, den sie nach dem Krieg verließ, um Schriftstellerin zu werden. Noch zweimal heiratete sie, auch die Ehe mit dem erfolgreichen Autor Kingsley Amis scheiterte. Elizabeth Howard starb vor sechs Jahren 90-jährig und von der Queen mit den Orden „Commander of the Empire“ geehrt. Und sie hinterließ eine Familiensaga, in der man viel von ihrem Leben wieder findet: Die Cazalets. dtv bringt alle fünf Bände in der Übersetzung von Ursula Wulfekamp heraus, drei Teile sind bereits erschienen: „Die Jahre der Leichtigkeit“, (siehe www.lilo-liest.de/zeitreise-ins-england-der-dreissiger/) „Die Zeit des Wartens“ und „Die stürmischen Jahre“. Frauen spielen die Hauptrolle In allen erweist sich Elizabeth Howard als exzellente Beobachterin, sensible Menschenkennerin und stilsichere Autorin. Für viele irritierend ist wohl, dass ein Großteil ihrer Familienchronik zu Kriegszeiten spielt, vor allem aber von Frauen handelt, von Liebe, Eifersucht, von Kindern und Haushaltssorgen. Und Elisabeth Howard…

Eine Liebe in kalten Zeiten
Rezensionen / 8. Januar 2020

Kalt ist es in dieser Fantasy-Geschichte von Nina Blazon, eiskalt zeitweise. Und nur manchmal wird den Lesern warm ums Herz. Dann, wenn es um Freundschaft geht, Zusammenhalt und später auch um Liebe. Aber zunächst ist Mailín, das Mädchen mit der schwarzen Sturmwind-Frisur und dem unbesiegbaren Herzen, allein auf sich gestellt, weil sie ihrer Freundin, der Fremdländerin Silja, zu Hilfe kommen möchte. Silja ist nach einem Fest in Mailíns Dorf spurlos verschwunden. Womöglich ist sie ein Opfer der sagenhaften Eisfischer geworden, die in den Winternächten angeblich Mädchen entführen. Mädchentrio auf gefährlicher Mission Wie im Märchen muss Mailín viele Hindernisse und Gefahren überwinden, bis sie zum Winterkönig in den Palast aus Eis gelangt. Und ohne die Hilfe der schlagkräftigen Elchreiterin Toma und des zarten aber der Zauberei mächtigen Webermädchens Brigida hätte sie Siljas Spur nie gefunden. Doch auch die Raben, denen sie ihren Spitznamen Rabenherz verdankt, sind eine große Hilfe. Und dann begegnet Mailín dem Mann aus ihren Albträumen. Eismund nennt sie ihn, weil er im Eis lag, schön und geheimnisvoll. Bald schon unterstützt Eismund die drei Mädel bei ihrer gefährlichen Suche. Nicht immer freiwillig, denn der Mann aus dem Eis hält wenig von Silja. Und auch Mailín muss erkennen, dass ihre…

Weibliche Perspektiven im Bell Collective
Rezensionen / 7. Januar 2020

„Die Zeiten, in denen Frauen nur als Musen herhalten mussten, sind vorbei. Wir sind jetzt die Künstlerinnen“, sagt Bell-Collective-Gründerin Alina Rudya selbstbewusst. Unter dem Namen der Reise-Pionierin Gertrude Bell versammelt das Kollektiv 14 professionelle Fotografinnen, „die alle ihr eigenes Ding machen“. In dem großformatigen Bildband  Bell Collective  findet sich vor allem Reisefotografie aus den unterschiedlichsten Perspektiven, immer aber aus weiblicher Sicht. Fotos, die Geschichten erzählen Alina etwa will, dass ihre Fotos eine Geschichte erzählen. „Poetic storytelling“ nennt sie das, was sie etwa mit Fotos der im Sand versinkenden namibischen Stadt Kolmanskop zeigt. Als „Inspiratorin“ begreift sich die Schweizerin Martina Bisau, die Berge und Wüsten liebt und gern in ihrem Bulli unterwegs ist. Menschen haben es es der Engländerin Annpurna Mellor angetan, bevorzugt in Indien. Die Italienerin Chiara Zonca dagegen liebt die Einsamkeit in der Natur, die sie gern aus unterschiedlichen Kamera-Perspektiven erkundet. Den Geist des Ortes einfangen – am liebsten in ihrer Heimat Siebenbürgen – möchte Lavinia Cernau. Auch Asa Steinardottir ist von ihrer Heimat (Island) geprägt und will Natur erlebbar machen – am liebsten bei stürmischem Wetter. Sonnenlicht und Schattenseiten Knallig bunt mag‘s dagegen die Schwedin Evelina Severin, die für ihre Fotos klare Linien schätzt. Emilie Ristevski, die im…

Schlaflos in Marseille
Rezensionen / 2. Januar 2020

Gianrico Carofiglio ist bei uns eher als Krimi-Autor ein Begriff.  In seinem Roman „Drei Uhr Morgens“ macht der Italiener sich auf eine Seelenerkundung. Eigentlich hatte Antonio kaum Kontakt zu seinem Vater. Die Eltern waren geschieden, und wenn man sich sah, kam man sich kaum näher. Als er wegen einer langwierigen Untersuchung mit dem Vater nach Marseille fährt, werden die Tage und schlaflosen Nächte für beide zu einer Reise ins Unbekannte: „Mir ging auf, dass ich gar nicht wusste, wie ich mit meinem Vater umgehen oder mit ihm reden sollte.“ Das wird sich ändern. Denn die beiden haben alle Zeit der Welt, sich einander anzunähern. Zwei Tage und zwei Nächte ohne Schlaf Für die Untersuchung soll Antonio zwei Tage und zwei Nächte ohne Schlaf zubringen, und sein Vater unterstützt ihn dabei. Vater und Sohn lernen dabei nicht nur einander besser kennen, auch das eher spröde Marseille, das ihnen anfangs nur hässlich und abweisend vorkam, erschließt sich ihnen mehr und mehr. Und Antonio muss erkennen, dass das Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hat, auf falschen Voraussetzungen beruhte, dass die Trennung der Eltern wohl ganz andere Hintergründe hatte als die, die er sich vorgestellt hatte. Poetische Seelenerkundung Auch dem Vater…

Der Schöpfungsgeschichte nahe
Rezensionen / 30. Dezember 2019

Traumtreks im Hohen Norden hat Michael Vogeley immer wieder unternommen.  Er kennt sich aus in der archaischen Natur nahe des Polarkreises. „Nördliche, auch arktische Regionen bilden eines der letzten Trekkinggebiete, die den Namen Wildnis noch verdienen“, schreibt Michael Vogeley im Vorwort zu seinem neuen Bildband. Sein reich illustriertes Buch versteht er als „Appetitmacher“ und einladend ist es auch gestaltet. Mit vielen Insider-Tipps zu Schwierigkeitsgrad, Trekking-Dauer, Übernachtungsmöglichkeiten… Weit weg von der Zivilisation Über allem steht Vogeleys Mahnung „Der gute Trekker passt sich der Natur an.“ Dass Trekkingtouren im Norden mehr und andere Organisation verlangen als im Süden, macht er gleich zu Anfang klar. Nicht nur in Grönland ist man als Trekker oft weit weg von der Zivilisation und „der Schöpfungsgeschichte ganz nah“. Das zeigen auch die eindrucksvollen Fotos, die Lust machen könnten, sich auf den Weg zu machen. Zum Beispiel auf den Arctic Circle Trail, der laut einer Umfrage als fünftschönster Fernwandertrek gilt und laut dem Autor zu den schönsten Trekkingtouren der Erde“ gehört. Trekking als Lebenselixier Dann Island „prall gefüllt mit Naturwundern“, die Wind umtosten Faröer Inseln, Schottland mit seinen Hochmooren und wilden Highlands, auf dem Great Glen Way auch für Anfänger erfahrbar. Im Gegensatz zur Isle of Skye, die…

Im Reich der Wölfe
Rezensionen / 26. Dezember 2019

 „Wolfsegg, sagte der Vater. Früher waren die Berge das Reich der Wölfe, es erstreckte sich bis hinunter nach Slowenien. Die Wölfe besaßen Kristalle und Edelsteine im Überfluss, während die Menschen nur Eisensteine aus dem Berg holten. Die Wölfe verlachten sie wegen ihrer armseligen Ausbeute. Da begannen die Menschen das Erz unten im Tal zu schmelzen. Aus dem Eisen fertigten sie Waffen und rächten sich an den Wölfen, beraubten, vertrieben und töteten sie. Nur diese Mulde war für die Menschen unerreichbar, und so wurde sie zum letzten Zufluchtsort der Wölfe.“ Der Mob aus dem Dorf Es ist eine düstere, archaische Welt, die Peter Keglevic in seinem Thriller Wolfsegg beschreibt. Von Anhang an hängt das Verhängnis wie eine schwarze Gewitterwolke über Agnes und ihrer Familie. Das Mädchen leidet darunter, dass ihrem Vater ein Diebstahl angehängt wurde, als er seine Arbeit beim Herrn des Tals verlor. Förster war der Vater, und als solcher kannte er das Land und die Berge wie seine Westentasche. Trotzdem entkommt er nicht seinem Schicksal – und dem aufgehetzten Mob aus dem Dorf, der einen Mann rächen will, dessen guter Ruf durch Agnes und seine Familie Schaden gelitten hat. Die Hölle im Heim Der Vater wird tot geprügelt, die…