Die Hölle der Tüchtigen
Rezensionen / 18. Oktober 2019

Sie haben‘s geschafft, die vier Paare, die Peter Henning in seinem dicken Roman porträtiert. Sie sind die Tüchtigen, wie auch der Romantitel lautet, in dem schon ein ironischer Zungenschlag spürbar ist. Doch zunächst sieht alles nach einem großen Fest aus. Katharina, die Bestsellerautorin, hat ihre Freunde zu ihrem 50. Geburtstag in ein holländisches Wellnesshotel eingeladen. Man ist schließlich wer und kann es sich leisten. Helikopter-Mutter und Banker mit Zocker-Gen Auch die anderen schwimmen auf der Blase mit: Belinda, die Helikoptermutter und Tom, der Banker mit dem Zocker-Gen. Anne, die Schöne, die irgendwie als Filialleiterin hängen geblieben ist, und Marc, der Autofetischist. Schließlich noch die Lehrerin Féline und ihr Mann Stephan, der gerade eine Psychose überwunden hat. Peter Henning stellt uns die Paare erst einmal ausführlich vor, ihre Alltagssorgen, die Kinder, die Wünsche. In die Sauna statt an den Strand Und dann geht‘s ans Eingemachte. Denn natürlich muss es zum großen Krach kommen. Statt Strandspaziergängen in der Sonne Saunagänge im Regen. Das kann nicht gut gehen. Katharina leidet unter einer Schreibblockade, ihr Mann Robert, ein eitler Flugkapitän und unverbesserlicher Macho, hat es auf Anne abgesehen. Die wiederum sorgt sich um ihren dementen Vater. Und Marc, der Ewig-Pubertäre, will vor allem mit…

Entdecker machen Geschichte
Rezensionen / 18. Oktober 2019

Ohne Entdecker würden wir unsere Welt nicht so gut kennen wie wir es heute tun.  Anita Ganeri wendet sich mit dem Bilder-Buch „Bis ans Ende der Welt“ zwar vor allem an kleine Leser mit großer Neugier. Aber die Begegnung mit 22 Entdeckern, von Michael Mullan anschaulich illustriert, bringt auch für Erwachsene neue Erkenntnisse.  „In diesem Buch reisen wir über die Meere, durch Wüsten und Gebirge, durch den Dschungel, ins ewige Eis und sogar in den Weltraum!“ Wenn das kein Versprechen ist… Mary Kingsley war eine Ausnahme-Abenteurerin Die Entdecker  reisten nicht immer im Namen der Wissenschaft, manche waren auch Schatzsucher oder Abenteurer. Trotzdem veränderten Entdecker wie Marco Polo, Vasco da Gama oder Columbus die Welt für immer – und nicht immer zum Besseren. Eine Ausnahme war Mary Kingsley, die sieben Jahre lang von 1893 bis zu ihrem Tod vor allem auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs war und die Ausbeutung der afrikanischen Länder anprangerte. Von Hernan Cortez bis zu Ellen MacArthur Frauen sind in der Riege der Entdecker, unter denen sich auch der geld- und machtgierige Konquistador Hernan Cortez befindet, deutlich in der Unterzahl. Neben Mary Kingsley hat es auch die 1976 geborene Ellen MacArthur in das Buch geschafft, die Engländerin, die…

Wer ist Nile?
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Judith Merchant ist kein unbeschriebenes Blatt. Sie unterrichtet Creative Writing an der Universität Bonn, hat schon zwei Mal den „Glauser“ für ihre Kurzgeschichten bekommen und war auch mit ihren Rheinkrimis erfolgreich. Mit „Atme!“ ist sie nun ins Thriller-Genre gewechselt, wobei Titel und Klappentext atemlose Spannung suggerieren. Das Versprechen hält die versierte Autorin auch ein, indem sie die Leser in ein Wechselbad der Gefühle stürzt. Plötzlich ist Ben verschwunden Und das ist der Ausgangspunkt: Der noch mit Flo verheiratete Ben, die große Liebe der Ich-Erzählerin Nile, verschwindet bei einem Einkaufsbummel spurlos. Um ihn zu finden, überwindet sich Nile, mit Flo zu kooperieren. Doch trauen kann sie Flo nicht, womöglich auch nicht Ben. Und sich selbst? „Der Bodensatz von allem, was mit Flo zu tun hat, ist schwarze, klebrige Eifersucht, und die war schon immer da, seit dem Moment, als Ben das erste Mal ihren Namen nannte und ich begriff, dass es sie gibt. Seine Frau. Dass er eine hat.“ Wer bin ich und wenn ja wie viele Wer ist diese Nile, die Flo den Mann weggenommen hat? Das nette junge Mädchen von nebenan, das von Flos Freunden gemobbt wird? Eine Frau mit Kontrollwahn? Das verängstigte Opfer einer frühen Vergewaltigung, die ein…

Sprung ins Ungewisse
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Simone Lappert hat ein Faible für Menschen, die anders sind. Das prägte schon ihren Erstling „Wurfschatten“. Auch die Protagonistin ihres neuen Romans Der Sprung, Manu, kommt mit dem normalen Alltag nicht zurecht, grenzt sich selber aus. Mit Finn, dem Fahrradkurier, ist das anders, den kann sie lieben, solange er nicht zu neugierig ist. „Das mag ich nicht, wenn du mich so ansiehst,“ sagte sie. „So in mich rein. Warum müssen mich nur ständig Leute so ansehen, so seltsam. Als wäre meine Biographie ein Dachboden, auf dem man herumwühlen und interessante Sachen finden kann.“ Der Sprung und die Gaffer Und dann ist es Manu, die alle diese Leute in Atem hält, weil sie auf dem Dach steht und zu springen droht. Simone Lappert hat ein paar von ihnen herausgepickt und betrachtet sie näher: Die verbitterte Witwe, die die Polizei ruft und damit das Drama erst in Gang setzt. Das alte Ehepaar mit dem traurigen kleinen Laden, der seine besten Zeiten hinter sich hat und der plötzlich brummt, weil die Frau auf dem Dach die Gaffer anzieht. Die Schülerin, die sich aus ihrer Rolle als Mobbingopfer befreien will. Die zweifach betrogene Frau, die ihr Leben neu planen muss. Der menschenfreundliche Obdachlose. Die…

Der Herzschlag der Geschichte
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Isabel Allende  ist mittlerweile 77 Jahre alt, hat 25 Bücher geschrieben und ist offensichtlich noch lange nicht am Ende ihrer Erzählungen angelangt. Im Gegenteil. Mit ihrem jüngsten Roman „Dieser weite Weg“ knüpft die Chilenin an frühere Erfolge an. Wie bei ihrem Debüt „Das Geisterhaus“ schöpft Isabel Allende auch hier aus ihrer eigenen Lebenserfahrung und aus den Erzählungen anderer. „Dieses Buch hat sich von selbst geschrieben“, sagte sie in einem Interview. „Ausdenken musste ich mir wenig.“ Inspiration aus der Flüchtlingskrise Mit inspiriert zu der Lebensgeschichte zweier katalanischer Flüchtlinge in Chile hat Isabel Allende nach eigenen Worten die aktuelle Flüchtlingssituation. Und tatsächlich fühlt man sich immer wieder an die Migranten-Diskussion unserer Tage erinnert, die zwischen Ablehnung und Willkommens-Euphorie schwankt: „Frankreich beobachtete mit Entsetzen, wie eine riesige Menge entkräfteter Menschen an seine Grenze drängte und nur mit Mühe in Schach gehalten wurde… Das Land war überfordert mit dieser Massenflucht der Unerwünschten.“ Ganz anders der Empfang der Flüchtlinge in Chile: „Niemand an Bord hatte mit dem Empfang gerechnet, den man ihnen bereitete… Hinter Absperrungen drängten sich Massen von Menschen mit Transparenten und spanischen, republikanischen, baskischen und katalanischen Fahnen und ein heiserer Chor von Hochrufen hieß sie willkommen.“ Wege, die sich kreuzen Im Mittelpunkt des…

Luca d’Andrea: Südtiroler Abgründe
Rezensionen / 8. Oktober 2019

„Meine Hauptinspirationsquelle sind meine Mitmenschen“, sagt der in Bozen geborene Thriller-Autor Luca d‘Andrea, der wie kein anderer Südtiroler Abgründe auslotet. Auch in seinem neuen Roman „Der Wanderer“ konfrontiert der Erfolgsautor die Leser mit dörflicher Beschränktheit, Liebe, Hass und Wahnsinn. Es geht um Mütter und Töchter, Väter und Söhne, gestörte Familien und skrupellos zementierte Machtverhältnisse. Alles andere als ein Bilderbuchsee Vor allem aber geht es um eine junge Frau, die vor langer Zeit  ermordet an einem abgelegenen Bergsee gefunden wurde und deren Tod nie aufgeklärt wurde.  „Es war kein Bilderbuchsee. Kein Vergleich mit den Alpenseen, die der Traum eines jeden Fotografen waren. Der See von Kreuzwirt war alles andere als eine Augenweide. Er ähnelte eher einem Tümpel mit ausgefransten Rändern. Als wenn Gott an dem Tage, an dem er ihn schuf, in Eile gewesen wäre.“ Scheinbare Idylle Ein Foto, das sie im Briefkasten findet, ruft der Tochter Sybille die tote Mutter ins Gedächtnis und lässt ihr keine Ruhe mehr. Zusammen mit dem Schriftsteller und damaligen Lokaljournalisten Tony versucht sie herauszufinden, was wirklich geschehen ist mit der „narrischen Erika“, wie die Dörfler die Frau nannten, die aus Tarotkarten die Zukunft las und die so gar nicht in die verschworene Gemeinschaft des nur…

Ein Mann für jeden Tag
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Dror Mishani weiß,  wie Spannung geht.  Auch in seinem neuen Roman „Drei“, der gar nicht als Krimi firmiert.  Was Orna fühlt, wird die Leser die nächsten 250 Seiten lang begleiten:  „Die Angst, die ihr in jener Nacht die Kehle zudrückte, war so stark wie an dem Tag, an dem sie Gil mit seiner Frau begegnet war, und auch die Wut war dieselbe, was sie abermals denken ließ, dass sie auch an jenem Tag im Grunde auf Ronen böse gewesen war und nicht auf Gil; dass auch ihre Beklemmung nicht unmittelbar mit Gil zusammenhing und damit, dass er sie belogen hatte, sondern mit dem, was diese armselige Beziehung über ihr Schicksal und ihr Leben besagte.“ Die Erwartungen sind nicht allzu hoch Orna ist frustriert, seit ihr Mann Ronen sie und ihren Sohn Eran für eine Frau verlassen hatte, die eigene Kinder mit in die Verbindung brachte. In Gil hatte sie gedacht, einen Ersatz zu finden. Der Mann sieht zwar nicht besonders gut aus, ist auch nicht besonders charmant, aber zuverlässig und eher unaufdringlich. Durchschnitt eben, ein Mann für jeden Tag. Aber was konnte eine Frau wie Orna denn schon erwarten? Frauen voller Lebenshunger In drei Kapiteln erzählt der israelische Autor Dror…

Abstieg in die Unterwelt
Rezensionen / 8. Oktober 2019

„Seit jeher vertrauen wir dem Unterland an, was wir fürchten und loswerden wollen und was wir lieben und bewahren wollen“, stellt Robert MacFarlane im Eingangskapitel zu seinem großartigen Buch „Im Unterland“ fest. In drei „Kammern“ nimmt der ausgezeichnete Literaturwissenschaftler und Naturschriftsteller die Leser mit auf die Reise in unterirdische Gefilde. Reise über drei Kammern ins Unterland Zunächst in seiner Heimat Großbritannien in stillgelegte Bergwerke, zu Forschern, die sich mit der dunklen Materie beschäftigen, und ins Unterholz, zum Netzwerk von Bäumen und Pflanzen. Dann in Europa zu unterirdischen Städten, zu den Katakomben von Paris, in die Kanalisation, wo Obdachlose hausen und in slowenische Abgründe der Partisanenzeit. Die dritte Kammer schließlich ist dem Norden vorbehalten: den Höhlen aus der Urzeit, dem Kampf gegen die Ölbohrungen in Naturschutzgebieten, dem schmelzenden grönländischen Eis, den Grabkammern radioaktiver Abfälle auf der finnischen Insel Olkiluoto. Die Hinterlassenschaften unserer Zivilisation MacFarlane, eigentlich ein begeisterter Höhenbergsteiger, hat sich körperlich und seelisch viel zugemutet, um die Leser teilhaben zu lassen an seinen Exkursionen in die Unterwelt, die hin und wieder tatsächlich an die biblische Hölle erinnert. Er ist hinabgestiegen in enge Räume, die ihm die Luft zum Atmen nahmen, hat sich im Norden dem Wüten der Natur ausgesetzt und ist…

Grünes Band: Lebensader Todesstreifen
Rezensionen / 2. Oktober 2019

Der Kolonnenweg „zwingt einem förmlich ein langsames Fortbewegen auf“, stellt Mario Goldstein schon bald fest, nachdem er sich auf den langen Weg über das Grüne Band gemacht hat. Der in der ehemaligen DDR geborene Abenteurer, der selbst eine Fluchtgeschichte hinter sich hat, erkundet zu Fuß mit seiner Hündin Sunny den Todesstreifen, der zum Rückzugsort für viele Tierarten wurde und den nicht nur der Bund Naturschutz als Ganzes unter Schutz gestellt sehen will. Bislang sind es 75 Prozent der 1400 Kilometer, die sich Mario Goldstein auf seiner langen Wanderung als „Erinnerungslandschaft“ präsentieren. Die Natur hat die Grenze überwunden 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat zumindest die Natur die Grenze überwunden. Wo einst 44 000 bewaffnete Soldaten dafür sorgten, dass das Schussfeld frei lag und möglichst kein Grashalm „das Licht der Welt erblickte“, 20 1,3 Millionen Landminen die Grenze zur Todesfalle machten, wo Dörfer geschleift und Flüchtige erschossen wurden, entwickelte sich mit den Jahren der Biotopverbund Grünes Band, der nicht nur Ornithologen, Tierfreunde und Naturschützer begeistert. Wolf und Luchs sind zurück, Otter, Schwarzstorch, Teichfledermaus und Rotbauchunke. In zwei Etappen auf dem Kolonnenweg Auch wenn das Wandern auf dem oft zugewachsenen Kolonnenweg „manchmal vor allem Plackerei“ ist, auch wenn nach langen…

Drei Frauen gegen das System
Rezensionen / 26. September 2019

Lange hat Margaret Atwood die Leser auf diese Fortsetzung warten lassen.  Über die Jahre  haben sich gefragt, wie es Desfred, der Protagonistin aus  „Der Report der Magd“ geht. Ob sie Gilead überlebt hat, diesen totalitären, christlich-fundamentalistischen Staat, in dem Frauen nichts und Männer alles sind. Nun, nachdem ihr Buch durch IS und einen Frauen verachtenden Trump neue Aktualität bekommen und zugleich als Serie reüssiert hat, hat sich Atwood zu einer Fortsetzung veranlasst gefühlt, in der sie die offenen Fragen beantworten lässt – von den „Zeuginnen“, drei sehr unterschiedlichen Frauen. Die Leichen im Keller Die eine, Agnes, wächst in Gilead behütet in einem Kommandantenhaushalt auf, bis ihre „Mutter“ stirbt und die Stiefmutter die 13-Jährige zur Heirat freigibt. Die andere, die rebellische Daisy, lebt in Kanada bei politischen Aktivisten, die sich für die Flüchtlinge aus Gilead engagieren und durch eine Autobombe ums Leben kommen. Und die Dritte, Tante Lydia, ist als Chefin der „Tanten“ im Haus Ardua, einer Art Frauen-Disziplinierungs-Lager, mitten drin und nah dran an der Diktatur von Gilead: „Über die Jahre habe ich viele Leichen in den Keller gebracht, nun bin ich geneigt, sie wieder an Tageslicht zu holen – und sei es nur zu deiner Erbauung, mein unbekannter Leser.“…