Die Via Appia unter den Füßen
Rezensionen / 3. Juli 2019

Paolo Rumiz ist Italiens emsigster Reiseschriftsteller, und er scheut keine Mühen. Für ein Buch hat er im Leuchtturm gewohnt, für ein anderes war er auf dem Po unterwegs. Doch was er und seine Reisefreunde bei der Wiederentdeckung der antiken Via Appia erlebt haben, hätte er sich nicht träumen lassen. Über 612 Kilometer gingen sie über die legendäre Römerstraße von Rom aus nach Brindisi. Jahrhunderte der Vernachlässigung Doch Jahrhunderte der Vernachlässigung haben die Appia beinahe aus dem Gedächtnis gelöscht: „Das ist ihre letzte Metamorphose,“ schreibt Rumiz, als er schon beinahe am Ziel ist und die Via Appia „im Hochofen des Stahlwerks“ gelandet ist. „Sie war Müllhalde, Tangente, Pipeline, Viehtrift, Weizenfeld. Jetzt ist sie Höllenfeuer.“  Der Schriftsteller  kann und will seinen Frust über die Ignoranz der italienischen Behörden nicht verleugnen, immer wieder hält er ihnen vor, was sie in ihrer Unwissenheit zerstört haben. Er ärgert sich über die stinkende Koake am Fuß der Felsenstadt Matera, immerhin Europäische Kulturhauptstadt 2019. Er trauert um die verlorenen Chancen des Südens, der zur Beute der Mafia zu werden droht, betrachtet besorgt die leeren Gehöfte und die Gespensterburgen und wütet gegen die gigantischen Windräder in der Basilikata, „das letzte Meisterwerk der Zerstörung“. Der Luxus, als erster über…

Tote Kumpel und ein alter Hass
Rezensionen / 3. Juli 2019

„All diese Reliquien, sagte sie, machen mein Herz zu Stein.“ Cécile, die Frau des Ich-Erzählers Michel Flavent in dem neuen Roman von Sorj Chalandon, kann nicht verstehen, warum ihr Mann in seiner Werkstatt eine längst vergangene Tragödie am Leben hält: Das Grubenunglück in der Zeche Saint Amé von Lievins, dem 42 Bergleute zum Opfer fielen. Auch Joseph Flavent, genannt Jojo, überlebte es nicht. Nach Meinung von Michel, der den älteren Bruder über alle Maßen bewunderte, wurde Jojo „im Alter von 30 Jahren durch die Grube ermordet“. Rachefeldzug nach 40 Jahren Als Cécile stirbt, fühlt sich Michel frei für den Rachefeldzug, den er seit 40 Jahren geplant hat. Ziel ist der Vorarbeiter, der damals für die Sicherheit des Schachts verantwortlich war und der bei der Trauerfeier für die toten Bergleute nicht geweint hat. Michel schließt sein Leben in Paris ab und kehrt heim ins ehemalige Revier, wo er per Zufall auf sein „Opfer“ stößt. Lucien Dravelle ist inzwischen ein alter Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen und Michel eigentlich ganz sympathisch ist, „ein armer Teufel mit einem Atemgerät“, ein Greis im Rollstuhl. Dennoch hält er an seinem Plan fest. Das Gericht wird zur Bühne eines Familiendramas Bis dahin hat es der…

Pilgern auf japanisch
Rezensionen / 3. Juli 2019

Es gibt viele Gründe, warum sich Menschen auf Pilgerschaft begeben. Bei Lena Schnabl war es eine Krankheit. Das Pfeiffersche Drüsenfieber hatte die Journalistin für lange Zeit außer Gefecht gesetzt. Auf dem 1300 Kilometer langen japanischen Pilgerweg auf der Insel Shikoku, dem wohl ältesten der Welt, wollte die junge Frau, die unter anderem Japanologie studiert hat, sich wieder mit ihrem Körper versöhnen. Japan jenseits der Klischees Geleitet von dem Mantra „Alle. Dinge. Sind. In. Wahrheit. Leer.“ macht sie sich auf die Suche nach dem Nirvana und findet nicht nur 88 Tempel, ein Japan jenseits der Klischees mit ranzigen Unterkünften und vielen alten Leuten, sondern auch schrullige Mit-Pilger, die ihr trotz allem über manche Krise hinweghelfen. Ehrlich beschreibt Lena Schnabl solche Krisen, die ihrer kaum bewältigten Krankheit geschuldet sind aber auch ihrem unpassenden Schuhwerk und mancher falschen Planung: Mal ist „alles Drama“, dann wieder wunderbar. Erkenntnisse im Auf und Ab des Wegs Die Stimmungen wechseln mit den Tempeln, dem Wetter, der Begleitung und den Anforderungen des Wegs. Im Auf und Ab erkennt sie: „Durch die Begegnung mit anderen begegnet man nicht nur sich selbst, man begegnet vielen Dingen. Vielleicht sogar einer neuen Heimat.“ Aber immer wieder gibt es Rückfälle, fragt sie sich,…

Ein Lob der Weltverbundenheit
Rezensionen / 11. Juni 2019

Dass Reisen glücklich macht, suggeriert jeder Reisekatalog. Doch stimmt das wirklich? Philipp Laage müsste es wissen. Der Reisejournalist war schon als Jugendlicher viel unterwegs und ist es jetzt hauptberuflich. In dem außergewöhnlich schön aufgemachten Buch „Vom Glück zu reisen“, das er „mit der Brille eines wohlhabenden Mitteleuropäers“ geschrieben hat, singt Laage aber keineswegs der Hohe Lied des Reiseglücks. Die Bucket List hat ausgedient Gerade weil er viel von unserer Welt gesehen hat, weil er sich auch seine Gedanken zum Massentourismus gemacht und einiges darüber gelesen hat, ist Philipp Laage kritisch, was die Erwartungen an eine Reise angeht. Vom Abhaken einer Bucket List hält er nichts  („Fuck you, bucket list“ heißt ein Kapitel) , wichtiger sind ihm das Erleben, die Herausforderung, die Auszeit vom Alltag, die Begegnung mit anderen Menschen. Und da kann der Reisejournalist einiges erzählen. In das Buch eingestreut finden sich einige außergewöhnliche Reiseerlebnisse in Ländern, wo der normale Tourist kaum hinkommt. Auch sie machen das Buch lesenswert. Wenig Sympathie für die Selfie-Manie Es lebt aber auch von Laages Belesenheit, von seiner Distanz zu schnellen Urteilen und schnellen Posts. Instagrammable muss für ihn nichts sein auf seinen Reisen, auf wohlfeile Selfies verzichtet er weitgehend, er muss sich auch nicht…

Hütten: Himmelshäuser und Wolkenschlösser
Rezensionen / 11. Juni 2019

Zwar warnt der Deutsche Alpenverein noch vor Schnee in den Alpen, aber spätestens ab Pfingsten ist Wanderzeit in den Bergen. Da wächst auch die Lust auf eine Hütteneinkehr. Die Auswahl ist groß, der Charakter der Hütten höchst unterschiedlich – von modernen, umweltfreundlichen Passivhäusern bis zu traditionsreichen Schutzhäusern, von Luxusunterkünften bis zu einfachen Hütten mit Matratzenlager. Die einen sind nur mit einem schweißtreibenden Anstieg zu erreichen, die anderen auf breiten Feldwegen. Manche mögen‘s eng und kuschelig, andere punkten mit spektakulären Ausblicken oder mit üppiger Hüttenjause. Es gibt familienfreundliche Hütten und solche, in denen sich vor allem Alpinisten wohlfühlen. Die Hütten lassen Wanderherzen höher schlagen Wer sich da zurecht finden will, freut sich über Tipps von erfahrenen Bergfreunden. Bernd Ritschel ist so jemand. Der bekannte Bergfotograf hat Hunderte von Touren hinter sich und kennt sich aus in der Welt der Berge. Seine Liebe zu den Bergen teilen der Alpinjournalist Frank Eberhard aus Memmingen und die Freie Journalistin Sandra Freudenberg, die am liebsten Alpen-Reportagen schreibt. Nun hat das Trio Hütten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien auf- und ausgesucht, die als „neue Sehnsuchtsorte in den Alpen“ taugen. Allein schon beim Durchblättern der 240 Seiten schlägt jedes Wanderherz höher. Die Beschreibungen der einzelnen…

Literarisches Labyrinth
Rezensionen / 23. Mai 2019

„Ich kann dir alles verzeihen, nur nicht, dass du stotterst,“ sagt eine der alten Frauen, die „Der Stotterer“ in dem gleichnamigem Roman von Charles Lewinsky  mit dem Enkeltrick hereingelegt hat. „Von einem Stotterer kann man nicht träumen,“ resümiert der Mann, der in diesem Buch sein Leben erzählt. Dieser Johannes Hosea Stärkle kann zwar keinen geraden Satz sprechen, dafür fließen ihm die Worte beim Schreiben geradezu aus der Feder. Der Stotterer leidet an Schreib-Loghorroe, einer krankhaften Geschwätzigkeit. Vom Stotterer zum Bestseller-Autor Er schreibt nicht nur sein Leben auf – in Briefen an den „Padre“, wie er den Gefängnispriester nennt, und in einer Art Tagebuch. Nein, er erfindet auch Geschichten als eine Art „Fingerübung“ und beteiligt sich an einem Schreibwettbewerb. So erfolgreich, dass er zum Bestsellerautor werden könnte. Wobei auch diese Karriere einer großen Intrige zu verdanken ist, denn der Stotterer ist ein Meister der Manipulation. Mit seinen Briefen hat er den Padre dazu gebracht, ihm einen Job in der Bibliothek zu verschaffen, wo er zum Drogenkurier eines Mafia-Advokaten avancierte und später zum Schreiber fingierter Liebesbriefe. Darin war er schon als Schüler ein Meister.  Er weiß um die Macht des Wortes,  und er  hat keine Skrupel, davon zu profitieren. In der Grauzone…

Sind Maschinen die besseren Menschen?
Rezensionen / 23. Mai 2019

Ian McEwan stellt in seinem neuen aufregenden Roman „Maschinen wie ich“  nichts weniger als die großen Fragen unserer Zeit: Wie menschlich können Maschinen sein? Können Roboter Gefühle haben, Moralvorstellungen? Entwickeln sie womöglich selbstständig ein Bewusstsein und konkurrieren dann mit den Menschen? Was lässt sich programmieren und wo scheitert der Schöpfer? Adam und Eve heißen die Roboter in dem Roman, in dem sich der Mensch zum Schöpfer macht.  25 solcher humanoiden Roboter sind auf dem Markt, zwölf Adams, 13 Eves. Einen davon hat sich Charlie Friend geleistet, der Ich-Erzähler des Romans, ein Lebenskünstler, der nach etlichen gescheiterten Karriereversuchen mehr schlecht und recht vom Online-Aktienhandel lebt. 1982  in einer anderen Zeit Wir schreiben das Jahr 1982, und Ian McEwan ändert den Lauf der Geschichte: Er lässt Margaret Thatchers Rivalen Tony Benn an die Macht und später bei einem Attentat umkommen und John F. Kennedy ebenso am Leben wie John Lennon. Der 1912 geborene Computerpionier Alan Turig, der 1954 wegen seiner Homosexualität in den den Selbstmord getrieben wurde, ist bei McEwan auch noch unter den Lebenden und mitverantwortlich für das Projekt humanoider Roboter. Charlie bewundert den Mann, und er ist verliebt in seine Nachbarin Miranda, eine Studentin. Mit Adam will er auch ihr…

Baedeker: Zurück zu den Anfängen
Rezensionen / 23. Mai 2019

Die Bucket list ist ein alter Hut. Schon Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiteten Reisende „Pflicht-Sehenswürdigkeiten“ ab – die der Baedeker mit Sternchen versehen hatte. Da hatten Dampfschiff und Eisenbahn schon das „Massenreisen“ ermöglicht, und die wohlhabende Mittelschicht gönnte sich Pauschalurlaub in schwimmenden Hotels. Wer sich individuell auf Reisen begeben wollte, griff zum Baedeker. Der Baedeker war so zuverlässig wie unverzichtbar Die „Handbücher für Reisende“ im klassischen roten Einband profitierten auch davon, dass 1878 für Staatsdiener und später auch für Angestellte ein Anspruch auf Urlaub eingeführt wurde – Arbeiter und Dienstpersonal konnten davon nur träumen. Baedeker wurde zur Weltmarke, für Individualisten war er so zuverlässig wie unverzichtbar. Welche Ratschläge Karl Baedeker und seine Autoren ihren Lesern mit auf den Weg gaben, verrät das Handbuch für Schnellreisende. Nilkreuzfahrt: Zwei Büchsen Ochsenzunge und 60 Flaschen Medoc Für eine Nilkreuzfahrt etwa sollten die Reisenden ihren eigenen Vorrat organisieren, darunter z.B. so Unersetzliches wie zwei Büchsen Ochsenzunge oder zwölf große Büchsen Sardinen und immerhin 60 Flaschen Medoc (für drei Personen und zwei Reisemonate). Wenig Sympathie hatte der Autor für die Ägypter selbst, denen es bei Dienstleistungen vor allem ums Bakschisch gehe: „Man zahle nie früher,als bis alle Dienste geleistet sind und zwar…

Annäherung an die Welt
Rezensionen / 23. Mai 2019

402 Nächte, 119 Schlafplätze in 13 Ländern und auf vier Kontinenten: Der österreichische Fernsehjournalist Jakob Horvat hat es sich nicht leicht gemacht beim Entdecken der Welt, und er hat zwischendurch auch mit seiner Idee gehadert, allein und ohne großen Komfort unterwegs zu sein. Am Ende seiner langen Reise „rein ins Leben“ ist er aber überzeugt davon, dass ihm zwar viel erspart geblieben wäre, wenn er sich nicht „raus aus der Komfortzone“ begeben hätte, dass er aber vor allem viel versäumt hätte. Und davon berichtet er in dem Buch Weltnah. Offene Türen nach holprigem Start Alles fing mit der Idee des norwegischen Freundes Martin an, einmal um die Welt zu reisen ohne zu fliegen, also meist per Anhalter. Zwar ist der Start in Wien etwas holprig, aber auch da tun sich neue Türen auf. „Du bekommst nicht viele Möglichkeiten im Leben, um deine Zeit so zu verschwenden wie wir das gerade tun,“ stellt Martin fest. Und Zeit verschwenden müssen die beiden noch öfter. Denn zwei trampende Männer haben es nicht leicht, eine Mitfahrgelegenheit zu finden und später dann auch noch ein Boot. Doch sie geben nicht auf und werden belohnt: Mit neuen Bekanntschaften, mit Entdeckungen und einem wachsenden Vertrauen in die…

Wer ist Philipp Lyonel Russell?
Rezensionen / 6. Mai 2019

Der Übersetzer ist bekannt: Der deutsche Schriftsteller Christoph Hein hat den Roman von Philipp Lyonel Russell „Am Ende ein Blick aufs Meer“ in einem kongenial heiteren Plauderton ins Deutsche übertragen. Erzählt wird das Leben des erfolgreichen britischen Autors P.G. Wodehouse (1881 bis 1975). Wodehouse, im Leben mit dem Spitznamen Plum (Pflaume) geschlagen, heißt bei Russell Frederick Bingo Mandeville und war wie sein Vorbild schon als Kind ein Possenreißer. Doch wer ist Philipp Lyonel Russell? Mastermind mit Pseudonym Ein Pseudonym heißt es beim Verlag. Der Mann, 1958 in England geboren, lehre in den USA und habe sich als „Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht“. Weil das englische Original zur Hein-Übersetzung nicht vorliegt, hat sich Lothar Müller von der SZ auf Spurensuche gemacht und den Übersetzer befragt. Hein gab Auskunft: Den vom Autor „sehr gut honorierten“ Auftrag habe er von einer renommierten Wiener Kanzlei erhalten. Wie auch immer, der locker erzählte Roman über einen Mann, der „das Paradies der Kindheit nie verließ“ (Müller) gibt eine Ahnung davon, wie Menschen in Kriegszeiten Realität ausblendeten: „Für die amerikanischen Bewohner der Hamptons war dieser Krieg auf dem fernen Kontinent so aufregend und bedeutungsvoll wie irgendein beliebiges Football-Turnier…Man verfolgte gelegentlich und unberührt die Ereignisse,…