Anna Tylers Familienaufstellung
Rezensionen , Romane / 2. Mai 2022

Nein, eine gemeinsame Sache ist diese Familie Garrett, von der Anne Tyler im gleichnamigen Roman erzählt, eher nicht. Das wird schon früh klar, als die Tochter Alice beim Badeurlaub feststellt: „Der Unterschied zwischen dieser Szene und den Szenen in den französischen Gemälden lag darin, dass die Menschen auf den Bildern ei gemeinsamen Unternehmungen dargestellt waren, bei Picknicks oder Bootsfahrten, während hier jeder für sich blieb… Ein Passant hätte niemals gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie.“ Allein statt gemeinsam Über 60 Jahre Familiengeschichte erzählt Anne  Tyler, von 1959 bis ins Corona-Jahr 2020. Im Zentrum stehen Robin und Mercy und ihre drei Kinder Alice, Lily und David. Nach außen eine glückliche Familie, nach innen voller Konflikte, die nicht ausgesprochen werden. Auch als Mercy aus dem gemeinsamen Heim ausgezogen ist, fragt niemand nach. Alle tun so, als wäre alles wie immer. Und vor allem Robin ist glücklich, dass er nichts erklären muss: „Kein einziges seiner Kinder ahnte, dass Mercy nicht mehr zu Hause wohnte. Das war die größte Errungenschaft in Robins Leben.“ Das Erbe der Eltern Dass die Familienmitglieder nebeneinander her leben, setzt sich fort bei den Kindern und Kindeskindern, die Anne Tyler später…

Sprechendes Foto-Album
Rezensionen , Romane / 26. April 2022

Klaus Cäsar Zehrer hat ein Faible für alte Fotos. Doch der Wahlberliner ist nicht nur Sammler, sondern auch Kulturwissenschaftler und freier Autor. Wobei er auch da ein Faible hat – für Komik und Kurioses. In dem Buch „Das schreckliche Zebra“ hat  Klaus Cäsar Zehrer die Gelegenheit genutzt und die beiden Faibles zusammengebracht. Bilder-Buch der anderen Art Entstanden ist ein Bilder-Buch der anderen Art, Fotos und ihre Geschichten. Von dem „kleinen Blick in vergangene Leben“ ließ sich der Autor zu frei erfundenen Geschichten anregen, machte sich sein eigenes Bild. Das hat so gut wie nichts mit dem ursprünglichen Hintergrund der Fotos zu tun, den ja Klaus Cäsar Zehrer auch nicht kennt. Und doch erwecken seine Parodien und Gedankenexperimente, weckt seine Sprachakrobatik und Fabulierfreude die vergilbten Fotografien aus vergangener Zeit zu neuem Leben. Eigenwillige Interpretation In einem englischen Text räsoniert ein amerikanischer Tourist nach einem Oktoberfest-Besuch über die Deutschen und die deutsche Gemütlichkeit. Und in dem Kapitel „Jonas und die Ganofen“ träumt sich der Schüler Jonas mit einer sehr eigenwilligen Interpretation deutscher Rechtschreibung in eine ebenso eigenwillige Heldengeschichte. Sagen Sie liberia! In der titelgebenden Geschichte parodiert Klaus Cäsar Zehrer eine biedermeierliche Anmache durch einen als Zebra verkleideten Mann , wobei er Afrikanisches regelrecht…

Verlorene Kindheit
Rezensionen , Romane / 25. April 2022

Der Papierpalast in Miranda Cowley Hellers  gleichnamigem Debütroman ist alles andere als ein Palast. Doch das schäbige Feriencamp mit Wänden aus Pappe ist der Dreh- und Angelpunkt für  das Leben  einer eigenwilligen Familienkonstellation.  Miranda Cowley Heller  weiß, wie man Geschichten aufbaut und den Spannungsbogen hält. Die Amerikanerin hat beim US-Sender HBO erfolgreiche Serien wie „Die Sopranos“ entwickelt. Kein Wunder, dass ihr  Papierpalast die „New York Times“-Bestsellerliste gestürmt hat und kurz nach Erscheinen auch auf der deutschen Bestsellerliste steht. Bestseller-Zutaten Der Roman hat alles, was einen Bestseller ausmacht: Eine sympathische Ich-Erzählerin, mit der Lesende sich gern identifizieren, lebendige Dialoge, eine komplexe Liebesgeschichte und ein dunkles Geheimnis.  An einem sonnigen Tag im August wird Eleanor Bishop, genannt Elle, klar, dass sie eine Entscheidung treffen muss. Will sie weiter mit ihrem liebevollen Ehemann Peter und den drei Kindern zusammenleben. Oder will sie endlich mit ihrem Jugendfreund Jonas zusammenkommen, mit dem sie ein tödliches Geheimnis teilt. Die Last der Erinnerung Schauplatz dieser schicksalsschweren Entscheidung ist das alte Ferienhaus der Familie auf Cape Cod, der  Papierpalast.  Das herunter gekommene Feriencamp spielt auch in Elles Erinnerungen eine wichtige Rolle. In Rückblenden wird klar, welche Last sie trägt und warum sie und Jonas nicht zusammenfinden konnten.  Miranda…

Mönch am Scheideweg
Rezensionen , Romane / 23. April 2022

Moritz Heger hat neben Germanistik und Theaterwissenschaften auch evangelische Theologie studiert. Das spürt man in seinem Roman „Aus der Mitte des Sees“, in dem es um eine Lebensentscheidung geht.  Bisher hat Lukas seine Entscheidung, Mönch zu werden, nie hinterfragt. Aber nun hat sein Mitbruder und Freund Andreas geheiratet und ist Vater geworden. Lukas fühlt sich allein gelassen in der großen Benediktiner-Abtei, in der außer ihm nur noch alte Mönche leben. Suche nach Klarheit Auch Lukas ist mit Ende 30 nicht mehr jung. Was ist mit seinem Leben? Er hadert mit dem Freund und dessen Entscheidung. Wie konnte Andreas das Kloster, ihr gemeinsames Zuhause, verlassen? Wie konnte er sich draußen ein neues Leben aufbauen?  Schwimmend im See versucht Lukas, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Er liebt es, sich vom Wasser tragen zu lassen, fühlt sich dabei geborgen wie in Gottes Hand. Der See und Sarah Doch dann taucht Sarah auf, auch sie eine Schwimmerin. Und Lukas entdeckt viele Gemeinsamkeiten.  Er fühlt sich zu der fremden Frau hingezogen und will trotzdem dem Klosterleben nicht entsagen. Zumal ihn die Mitbrüder drängen, gemeinsam mit einem Älteren die Leitung des Klosters zu übernehmen.  Moritz Heger dringt in seinem Roman „Aus der Mitte des Sees“ tief…

In der Falle
Rezensionen , Romane / 17. April 2022

„Der Ausflug“ ist der neue Roman des Journalisten und Autors Dirk Kurbjuweit. Und dieser Ausflug, der ganz harmonisch beginnt, führt direkt ins Herz der deutschen Finsternis. Amalia, ihr Bruder Bruno und die Familienväter Gero und Josef, Freunde seit Schultagen, freuen sich auf eine gemeinsame Kanutour und das Auffrischen alter Erinnerungen. Doch schon an der ersten Station, einem Wirtshaus, macht eine Clique Einheimischer ihnen klar, dass sie hier nicht willkommen sind. Böse Vorzeichen Der unverhohlene Hass gilt vor allem Josef, dem schwarzen Deutschen. Doch die vier wollen sich nicht einschüchtern lassen, auch wenn sich böse Vorzeichen häufen. Die gemieteten Kanus sind alt, die Karte ist untauglich, manche Schleuse unpassierbar. Jeder Paddelschlag ist einer auf den Abgrund zu. Auch die Landschaft, in der sie orientierungslos driften, wirkt zunehmend feindlich, und schon bald ist von der anfänglichen Abenteuerlust kaum mehr etwas übrig. Der Kongo im Spreewald Allen ist klar, dass sie in eine lebensbedrohliche Falle geraten sind und es nur mehr darum geht, mit heiler Haut davon zu kommen. Dirk Kurbjuweit skizziert in diesem Roman eine beklemmende Versuchsanordnung, die an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ erinnert. Nur dass sich der Kongo bei Kurbjuweit im Spreewald befindet. Die Fließe werden zum Symbol der Orientierungslosigkeit,…

Sommer der Überraschungen
Rezensionen , Romane / 14. April 2022

Mit ihren Dienstagsfrauen hat Monika Peetz Bestseller gelandet. Womöglich gelingt ihr das auch mit „Sommerschwestern“. Ging es in den Dienstagfrauen um fünf Freundinnen, spielen in den Sommerschwestern vier sehr ungleiche Schwestern die Hauptrolle. Unerwartete Einladung Auf Einladung ihrer Mutter, mit der alle vier ihre Probleme haben, kommen die Schwestern im niederländischen Bergen zusammen, dem Ort unbeschwerter Ferien aber auch dem Ort, an dem der Vater bei einem Unfall ums Leben kam. Warum hat ihre Mutter sie ausgerechnet dorthin befohlen, fragt sich Yella, die gerade selbst Schwierigkeiten mit der Familie hat. Probleme im Gepäck Eingeweiht in die mütterlichen Pläne scheint nur die große und erfolgreiche Schwester Doro zu sein, die allzu gern im Mittelpunkt steht. Denn auch die sehr verschiedenen Zwillingsschwestern Helen und Amelie stehen vor einem Rätsel. Auch sie haben auch ihre persönlichen Sorgen und Nöte im Gepäck: Amelie flattert von einem ungeeigneten Typen zum nächsten und bringt nichts auf die Reihe, und Helen läuft Gefahr, sich durch die eigenen Regeln ihr Glück zu verbauen. Rätselhafte Mutter Sobald man an der Oberfläche kratzte, wurde das Leben unübersichtlich, denkt Yella. Die überraschende Einladung der Mutter kam für alle zur Unzeit. Doch was sie ihren Töchtern offenbart, lässt die Alarmglocken schrillen und…

Dorf ohne Jugend
Rezensionen , Romane / 13. April 2022

Den Debütpreis der lit.Cologne hat Sven Pfizenmaier nicht bekommen,  obwohl sein  Erstling „Draußen feiern die Leute“ ebenso aktuell wie aufsehenerregend ist. Hunderttausende Ukrainer sind derzeit auf der Flucht. Wie werden sie hier leben? In einem fremden Land mit fremder Kultur? Nicht immer gelingt die Integration. Mit Witz und Scharfsinn erzählt Sven Pfizenmaier in seinem Debüt auch von Anpassungsschwierigkeiten der Einwanderer. So wundert sich die Russlanddeutsche Valerie darüber, „dass ihre Eltern ihre frühere Welt konserviert und in diesem Haus wieder aufgebaut haben“. Außenseiter  unter sich Sie ist nicht allein als Außenseiterin in diesem ungewöhnlichen Dorfjugendroman, der von einer Teenager-Clique erzählt. Unangepasst sind sie alle irgendwie: Richard, der auf andere wie eine Schlaftablette wirkt. Timo mit seiner grünlichen Pflanzenhaut. Die Träumerin Valerie, die ihr halbes Leben verschläft. Schmauser, immer gut für einen Exzess. Und dann sind da noch die drei Dorfgauner Dima, Danik und Doktor Dobrin, auch sie mit Migrationshintergrund aus Kasachstan und nie so recht in Deutschland angekommen. Rasputin und die Verschwundenen Das Zwiebelfest bringt sie alle zusammen – im Rausch. Doch einige fehlen, sind einfach weg, verschwunden. Wie die Schwester von Jenny, Richards Freundin. Auch Jenny will weg aus dem Dorf, vielleicht ihre Schwester finden. Die Spur führt nach Hannover und…

Andrea Sawatzki über ihre verlorene Kindheit
Rezensionen , Romane / 6. April 2022

Es gehört viel Mut dazu, sich als bekannte Schauspielerin vor der Öffentlichkeit so zu entblößen. Andrea Sawatzki wagt mit ihrem Buch „Brunnenstraße“ einen schmerzhaft ehrlichen Rückblick auf ihre problematische Kindheit mit einem dementen Vater. Träume von einem neuen Leben Der Chefredakteur Günther Sawatzki hat seine Geliebte und das gemeinsame Kind, Andrea, erst nach dem Tod seiner Frau zu sich genommen. Für die achtjährige Andrea anfangs die Erfüllung eines Traums: „Ich hätte meinen Vater gegen keinen anderen der Väter, die ich kannte, eintauschen mögen. Ich war stolz auf ihn.“ Auch die Mutter, die ihrer rebellischen Tochter viele Freiheiten gegönnt hatte, träumt von einem angepasst großbürgerlichen Familienleben an der Seite des verehrten Geliebten. Ein Vater zum Hassen Man zieht nach Bayern, Andrea bekommt zum ersten Mal ein eigenes Zimmer, die Mutter eine Wohnzimmergarnitur, der Vater eine Bibliothek. Doch die Träume von Mutter und Tochter zerplatzen wie eine Seifenblase, als die offensichtlich schon länger latente Alzheimer-Erkrankung Günther Sawatzkis offen ausbricht. Er war nie ein Vater zum Liebhaben, jetzt wird er ein Vater zum Hassen. „Je größer die Liebe, desto größer der Hass“, schreibt Andrea Sawatzki in ihrem Rückblick. „Bei mir war das der Fall. Ich hatte eine Liebe für meinen Vater in mir…

Ein Frauenleben zwischen den Welten
Rezensionen , Romane / 30. März 2022

Anne Müller („Sommer in Super 8“) hat mit „Das Lied des Himmels und der Meere“ zwar einen historischen Roman geschrieben. Doch die Hauptperson Emma, die nach Kalifornien auswandert statt einen Mann zu heiraten, den sie nicht lieben kann, ist ihrer Zeit weit voraus. Von Feminismus war zu ihren Lebzeiten noch keine Rede, aber Emma schafft es, ein in vielen Bereichen selbst bestimmtes Leben zu führen. Inspiration durch die Ururgroßtante Hartnäckig kämpft sie gegen die Bevormundung der Eltern und später des Ehegatten an. Anne Müller, die gern Biographisches in ihren Romanen verarbeitet, hat sich vom Leben ihrer Ururgroßtante zur Figur der Emma inspirieren lassen. Sie ist den Spuren ihrer Ahnin gefolgt, die tatsächlich nach Amerika ausgewandert ist und hat aus Fakten und Fiktion einen lesenswerten Roman gestrickt. Zwischen zwei Männern Dabei hat sie es geschafft, die Atmosphäre der damaligen Zeit mit ihren zahllosen Konventionen so erlebbar zu machen wie das Streben der Protagonistin nach dem eigenen Glück. Das Leben der Ururgroßtante gab zwar den Anstoß für den Roman, doch die Leerstellen musste die Autorin mit der eigenen Vorstellungskraft füllen. Und so gerät ihre für die damalige Zeit reichlich emanzipierte Emma zwischen zwei Männer. Dass sie sich für den ihr angetrauten Gatten…

Hymne auf die Bergwelt
Rezensionen , Romane / 25. März 2022

Die junge katalanische Schriftstellerin Irene Solà hat für ihren Roman „Singe ich, tanzen die Berge“ 2020 den Europäischen Literaturpreis bekommen: Auf wunderbare, vielstimmige Weise und in großen Bögen erzählt sie die Geschichte der Berge, die Erinnerungen an Jahrhunderte, an geologische Epochen und politische Konflikte in sich tragen, und vom Leben der Menschen in den abgelegenen Dörfern. Ewiger Tanz der Natur Alles ist miteinander verwoben im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen. Dafür findet Irene Solà Sätze wie Blitzeinschläge und Bilder von surrealer Wucht. Ihre Sprache ist poetisch und von einer wilden Schönheit wie die schroffen Berge der Pyrenäen. Sie trägt diesen erstaunlichen Roman, der zwischen Traum und Wirklichkeit oszilliert, in dem Wolken sprechen und Trompetenpilze. In dem Menschen leben, lieben, gebären und töten. Sagen werden lebendig, Tote erwachen zum Leben in diesem ewigen Tanz der Natur. Doppelter  Schicksalschlag Irene Solà stammt selbst aus einem kleinen Dorf in der Provinz Barcelona. In den Mittelpunkt ihres so vielschichtigen Romans hat sie eine Familie gestellt, die gleich doppelt von einem gewaltsamen Tod heimgesucht wird: Der Vater wird vom Blitz erschlagen, der Sohn stirbt bei einem Jagdunfall – erschossen von seinem besten Freund. Die Macht der Wörter Seiner Schwester Mia fehlen die Worte, um…