Brandherde
Rezensionen , Romane / 16. Juli 2022

Es ist heiß, brandheiß. Gleich über dem Fluss gegenüber vom Hotel brennt der Waldl ichterloh. Die meisten Menschen haben das Dorf verlassen, nur die Hotelerbin hält noch tapfer stand. Nein, dies ist nicht die Beschreibung eines der derzeitigen Waldbrände, es ist der Beginn eines im wahrsten Sinn des Wortes brandaktuellen Romans. Geschrieben hat ihn die gebürtige Augsburgerin Franziska Gänsler.  „Ewig Sommer“ ist das Debüt der jungen Autorin, die heute in Wien lebt. Eine der letzten im Ort „Franziska Gänsler schreibt mit einer ungeheuren sprachlichen Kraft… und erzeugt gleich von der ersten Seite an so viel Spannung, dass man das Buch nur so verschlingt“, lobt der Verlag.  Franziska Gänsler schreibt aus der Sicht von Iris, die das Hotel von ihrem Großvater geerbt hat. Als eine der letzten harrt sie im ehemaligen Kurort Bad Heim, der inzwischen in einem Waldbrandgebiet liegt, aus – rauchend und auf Regen hoffend. Mutter und Tochter Es gibt keine Gäste im Hotel, kaum mehr Menschen im Ort bis auf Baby, die dicke, alte Frau, die scheinbar schon immer da war. Und das Klimacamp vor dem brennenden Wald. Für Iris vergehen die Tage in Monotonie. Und dann klopft eines Tages Dori an die Tür, eine junge Mutter mit…

Abgründiger Verdacht
Rezensionen , Romane / 29. Juni 2022

In dunkle Abgründe führt das Autoren-Duo und Ehepaar Nicci French ((Nicci Gerrard und Sean French) die Lesenden in seinem neuen Thriller. Tess ist geschieden und vergöttert ihre dreijährige Tochter Poppy. Von Kindsvater Jason, dessen junge Frau ein Kind erwartet, hat sie sich einvernehmlich getrennt. Auch der Regelung, dass Poppy Zeit mit ihm und der neuen Frau verbringt, hat sie zugestimmt. Was ist passiert? Doch dann findet sie nach einem Vater-Wochenende eine krakelige Zeichnung des Kindes, die darauf hindeutet, dass es etwas Schreckliches gesehen, gehört oder womöglich erlebt haben könnte. Und so beginnt Tess‘ Suche nach etwas, von dem sie nicht weiß, was es ist. Nachdem sie von einem Mord an einer jungen Frau gelesen hat, der in das Schema von Poppys Zeichnung passt, beginnt sie, alle Männer in ihrer Umgebung zu verdächtigen, zuvördest Jason aber auch ihren neuen Freund. Und sie zeigt ihren Verdacht bei der Polizei an. Wer ist schuld? Doch niemand will ihr glauben, sie isoliert sich immer mehr, sammelt Beweise und Verdachtsmomente, die niemanden interessieren. Bei der Polizei gilt sie bald als schwieriger Fall. Dass auch Poppys Verhalten immer problematischer wird, kommt erschwerend hinzu. Doch Tess gibt nicht auf. Ihre Suche führt sie an Abgründe und bringt…

Geborgtes Leben
Rezensionen , Romane / 23. Juni 2022

„Ein Zug voller Hoffnung“ heißt der Roman der neapolitanischen Schriftstellerin Viola Ardone, in dem sie ein vergessenes Kapitel der italienischen Geschichte aufgreift. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war hart in Europa, auch in Italien. Nahrung war knapp, die Menschen hungerten – vor allem im armen Süden. Von dort schickte die kommunistische Partei „Züge der Hoffnung“ in den reicheren Norden. Angst vor dem anderen Leben Treni die bambini heißt der Roman von Viola Ardone  im Original, denn es waren Kinder, die in diesen Zügen zu Gastfamilien fuhren. Im Mittelpunkt steht der siebenjährige Amerigo aus Neapel, der mit seiner alleinerziehenden, bildungsfernen Mutter kaum über die Runden kommt. Ein bisschen Geld kann er durch das Sammeln von Lumpen zum Lebensunterhalt beitragen. Zusammen mit seinem Freund Tommasino und dem Mädchen Mariucca reist Amerigo zu einer Gastfamilie nach Modena. Voller Angst, was ihn dort erwarten könnte. Denn in Neapel haben die Gegner der Kommunisten Horrorgeschichten über diese Züge verbreitet. Perspektive aus Kinderaugen Doch die erweisen sich schnell als bösartige Lügen. Schon bald fühlt sich Amerigo in seiner Gastfamilie nicht nur gut aufgehoben, er wird auch vom Gastvater Alcide musikalisch gefördert. Es ist ein völlig anderes Leben, in das Amerigo eintaucht. Ein Leben in Sicherheit,…

Israel und sein Trauma
Rezensionen , Romane / 22. Juni 2022

Dass Israel ein traumatisiertes Land ist, ein Land, für das Kriege Alltag sind, das ist das große Thema der Schriftstellerin Lizzie Doron – auch in ihrem neuen, autobiographisch gefärbten Roman „Was wäre wenn“. Was wäre wenn die Ich-Erzählerin, ein alter Ego der Autorin, mit dem Jugendfreund Ygal zusammengekommen wäre? Was wäre, wenn sie sich früher wieder gesehen hätten? Was wäre, wenn Ygal nicht in Gefangenschaft geraten wäre?  All diese Fragen gehen der Erzählerin nach einem Besuch bei dem todgeweihten Jugendfreund im Kopf herum. Im Sog der Erinnerungen Er hatte sie noch einmal sehen wollen. Und in der Nacht nach dem Besuch am Sterbebett des Freundes überfallen sie Erinnerungsfetzen, Schlaglichter auf ihre Jugend, den Wehrdienst, die anfängliche Euphorie und die lange Enttäuschung. Es ist kein klarer Gedankenfluss, die Erinnerungen sind sprunghaft, ungeordnet. Die Erzählung mäandert zwischen der schlaflosen Nacht und der Kindheit mit einer vom KZ gezeichneten Mutter, zwischen dem Besuch im Hospital und der Freundschaft mit dem jungen, rebellischen Ygal Ben Dror, aus dem irgendwann Ygal Dobrinsky wurde, zwischen dem Tod der Mutter und der eigenen Angst. Zum Sterben nach Israel Wie Ygal hat sich auch die Erzählerin weit vom naiven Idealismus ihrer Jugend entfernt, wie er sieht sie kritisch, was…

Im Corona-Exil
Rezensionen , Romane / 9. Juni 2022

Gary Shteyngart  war noch ein Kind, als seine Eltern aus Leningard, dem heutigen St. Petersburg in die USA emigrierten.  Die Welt der russischen Emigranten hat ihn nie losgelassen. Ebenso wenig wie die Neigung zur Selbstparodie.  Beides gilt auch für seinen neuen Roman „Landpartie“. Freunde mit Migrationshintergrund Die Pandemie wütet in der Stadt, und der russisch-stämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky hat mit seiner Frau Masha und der chinesischen Adoptivtochter Nat Zuflucht in seinem Landhaus gesucht. Zur Unterhaltung hat er ein paar Freunde aus alter Zeit in die zum Haus gehörenden Bungalows eingeladen. Bis auf seine ehemalige Schülerin Dee haben sie alle auch Migrationshintergrund: der koreanische Dandy Ed, die ebenfalls aus Südkorea stammende Dating-App-Erfinderin Karen und Vinod, den Sohn indischer Immigranten. Der Gastgeber führt Regie Zu dieser illustren Intellektuellen-Runde stößt später noch ein berühmter Schauspieler, der dabei helfen soll, Senderovskys neuen Roman zu verfilmen. Das ist die Ausgangsbasis von Gary Shteyngarts neuem Roman, einer klugen Gesellschaftssatire vor dem Hintergrund von Corona und Trump. Zwar weckt das Setting Erinnerungen an Boccaccios Klassiker Decamerone. Aber bei Shteyngart, der mit Senderovsky Alter und Beruf gemein hat, finden die erotischen Abenteuer, die teilweise überraschende Wendungen nehmen, erst statt. Und bei einigen führt der Gastgeber selbst Regie. Tschechow…

Brunetti im Netz der Erinnerung
Rezensionen , Romane / 2. Juni 2022

Es sind immer weniger die üblichen Krimis, die aus der scheinbar unversiegbaren Feder von Donna Leon fließen. Auch Brunettis 31. Fall „Milde Gaben“ beschäftigt sich intensiv mit dem, was der Autorin schon seit Jahren am Herzen liegt – Gesellschaftskritik. Die Folgen von Corona Venedig ist dabei, die Pandemie abzuschütteln. Doch die Stadt hat gelitten, viele Läden bleiben geschlossen. Doch während Corona manche in den Ruin trieb, haben andere profitiert. Brunetti hat viel Zeit, sich Gedanken über die abstrusen Folgen der Pandemie zu machen und sich seinen Klassikern zu widmen. Auch das Verbrechen scheint zu pausieren. Die Freundin, die keine war Und dann bittet ihn eine alte Freundin um Hilfe, die in Wirklichkeit gar keine Freundin war, wie Brunetti sich widerwillig erinnert. Der Commissario muss nur zurückdenken an seine ärmliche Kindheit. Und so erfahren die Lesenden erstaunlich viel aus Brunettis Leben vor Paola. Von den beengten Verhältnissen, in denen er zusammen mit seinem älteren Bruder aufwuchs. Vom Vater, der seit der Heimkehr aus dem Krieg immer seltsamer wurde, und von der geliebten Mutter, die im Alter dement wurde. Keine Lösung und viele Fragen Es sind teilweise schmerzvolle Erinnerungen, denen sich Brunetti in diesem Fall stellen muss. Nach vielen Verwicklungen wird klar,…

Viel faul in Indien
Rezensionen , Romane / 25. Mai 2022

Der Inder Rahul Raina nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, was faul ist im Staat Indien. Sein Roman „Bekenntnisse eines Betrügers“ ist deshalb auch nichts für naive Indien-Versteher. Indien-Kenner freilich werden Rainas Schelmenroman mit Vergnügen lesen. Denn der junge Autor nutzt jede Gelegenheit, die Schwächen des Staates zu entlarven, der sich die größte Demokratie der Welt nennt: Korruption, Kastenunwesen, Dreck, Armut und die Neigung zu Massenhysterie.  Chancenlos in der Klassengesellschaft Auch die Geschichte des jungen Ich-Erzählers Ramesh, der mutterlos bei seinem gewalttätigen Vater auf- und dank einer unerschrockenen französischen Nonne zu einem intelligenten jungen Mann heranwächst, ist eine typisch indische. Denn Ramesh, der am liebsten im Sinn seiner Wohltäterin ein Studium absolviert hätte, hat keine Chance auf einen Aufstieg in Indiens Klassengesellschaft. Erkaufte Karriere Stattdessen verhilft der hochintelligente  Ramesh aus Geldnot dem verwöhnten und faulen Söhnchen eines gut situierten Paares zu einem Abschluss als Bester der Nation.  (Gekaufte Titel sind in Indien wohl an der Tagesordnung.)  Für den dicklichen und eher dümmlichen Rudrash, genannt Rudi, beginnt damit eine atemberaubende Karriere als Quiz-Moderator. Und Ramesh profitiert als dessen Assistent vom neuen Wohlleben. Doch die Konkurrenz schläft nicht – die beiden werden gekidnappt. Sündenbock Ramesh Was dann folgt,…

Heiß umkämpftes Eis
Rezensionen , Romane / 23. Mai 2022

Wolf Harlander ist als Journalist immer am nah dran am Zeitgeschehen. Das hat er mit seiner Öko-Dystopie „42 Grad“ und dem Thriller „Systemfehler“ zum Thema Cyberattacken bewiesen. Und sein neues Buch „Schmelzpunkt“ passt in die Serie. Denn vieles, worüber Harlander darin schreibt, kennen wir aus den Schlagzeilen: Die Erderwärmung, die Gletscherschmelze, den Kampf um die Arktis und ihre Ressourcen. Es geht um Geld und Macht Wolf Harlander packt alles in einen spannenden Thriller, in dessen Zentrum die Wissenschaftlerin Hanna vom Alfred-Wegener-Institut und der grönländische Inuit Nanoq stehen. Hauptschauplatz ist ein unter ungewohnter Hitze stöhnendes Grönland, auf dem sich Spione, Abenteurer und Söldner aus aller Welt tummeln. Es geht um Geld, viel Geld. Und um die Macht am nördlichen Ende der Welt. Wieder mal der BND Auch der BND ist alarmiert und schickt den jungen Nelson Carius und seine kühle Kollegin Diana Winkels, die man schon aus „Systemfehler“ kennt, in die Problem-Zone. Die beiden sind ziemlich abgebrüht, ihren Weg pflastern einige Leichen. Doch bei dem Machtkampf im gar nicht mehr so ewigen Eis bleiben vor allem andere auf der Strecke – die Inuit, deren Leben auf den Kopf gestellt wird. Als dann auch noch eine wohl von Menschen ausgelöste Monsterwelle Nanoqs…

Der Osten im Westen
Rezensionen , Romane / 4. Mai 2022

Gelsenkirchen, die Heimat von Schalke 04, Stadt des Bergbaus und der dicken Luft. Und heute „die ärmste Stadt Deutschlands“ trotz sauberer Luft. Ausgerechnet diese Stadt macht der Schriftsteller Gregor Sander zum Objekt einer Erkundung.  In „Lenin auf Schalke“ geht es um den „Osten im Westen“, wie Sanders Freund Schlüppi meint. Schließlich werde es Zeit zurückzugucken. „Weil die aus dem Westen uns seit dreißig Jahren ununterbrochen beschreiben, filmen und betrachten. Die haben uns gedreht und gewendet wie die Schnitzel in der Pfanne und immer noch nichts begriffen.“ Die traurigste Stadtinformation Auch Sander begreift erstmal nichts, als er in Gelsenkirchen bei Schlüppis Cousine, der „Zonengabi“, absteigt und die Abraumhalden betrachtet. Warum die noch da sind, wenn doch schon längst Schicht im Schacht ist, fragt er Gabis Freund Ömer. „Für zum runtergucken“, sagt der und Gabi ergänzt: „Und wegen der Touristen.“ Darauf wäre Sander nun eher nicht gekommen, so abgetakelt wie sich ihm Gelsenkirchen präsentiert: geschlossene Kneipen, verrammelte Schaufenster, bröckelnde Fassaden. Und „die traurigste Stadtinformation der Welt“ in einer winzigen Bude, die sich tapfer abmüht, Gelsenkirchen etwas Sehenswertes abzugewinnen. Empathie für die Stadt der Abgehängten Außer Schalke, aber die sind ja inzwischen auch abgestiegen. Kein Wunder, dass bei den Fans in der Friesenstube…

Anna Tylers Familienaufstellung
Rezensionen , Romane / 2. Mai 2022

Nein, eine gemeinsame Sache ist diese Familie Garrett, von der Anne Tyler im gleichnamigen Roman erzählt, eher nicht. Das wird schon früh klar, als die Tochter Alice beim Badeurlaub feststellt: „Der Unterschied zwischen dieser Szene und den Szenen in den französischen Gemälden lag darin, dass die Menschen auf den Bildern ei gemeinsamen Unternehmungen dargestellt waren, bei Picknicks oder Bootsfahrten, während hier jeder für sich blieb… Ein Passant hätte niemals gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie.“ Allein statt gemeinsam Über 60 Jahre Familiengeschichte erzählt Anne  Tyler, von 1959 bis ins Corona-Jahr 2020. Im Zentrum stehen Robin und Mercy und ihre drei Kinder Alice, Lily und David. Nach außen eine glückliche Familie, nach innen voller Konflikte, die nicht ausgesprochen werden. Auch als Mercy aus dem gemeinsamen Heim ausgezogen ist, fragt niemand nach. Alle tun so, als wäre alles wie immer. Und vor allem Robin ist glücklich, dass er nichts erklären muss: „Kein einziges seiner Kinder ahnte, dass Mercy nicht mehr zu Hause wohnte. Das war die größte Errungenschaft in Robins Leben.“ Das Erbe der Eltern Dass die Familienmitglieder nebeneinander her leben, setzt sich fort bei den Kindern und Kindeskindern, die Anne Tyler später…