Das Schweigen der Dörfler
Rezensionen , Romane / 24. März 2022

Massimo Carlotto ist nicht nur einer der bekanntesten italienischen Kriminalschriftsteller, er kennt sich auch aus im Milieu. War er doch selbst für längere Zeit Häftling, ehe er vom Präsidenten begnadigt wurde. Das hat seine Einstellung gegenüber der wuchernden Kriminalität im Land der Mafia geprägt. Auch der neue Roman „Und es kommt ein neuer Winter“ ist Ausdruck seiner Skepsis, dass sich daran etwas ändern könnte. Außer Kontrolle Der erfolgreiche Immobilien-Unternehmer Bruno Manera aus der Stadt ist nach der Heirat mit der wesentlich jüngeren Federica in ihr Dorf gezogen. Doch dort wird er nie Wurzeln schlagen. Nicht nur die alteingesessene Familie seiner Frau lehnt ihn ab, das ganze Dorf ist gegen ihn. Die vom Liebhaber seiner Frau geplante und bezahlte „Abreibung“ gerät außer Kontrolle. Tödliche Kastanien Dem ersten Mord folgen weitere. Und das Dorf hüllt sich in verhängnisvolles Schweigen. Jeder und jede könnte Täter sein, hätte ein Motiv. Auch der örtliche Maresciallo hat kein echtes Interesse an einer gründlichen Aufklärung. Dass es am Ende doch noch den lange unauffälligen Strippenzieher erwischt, hat mit einer Frau zu tun, die ihre Familie retten will. Und mit „Marrons glacés“, eingelegten Esskastanien. Minimalistischer Stil Dass der Genuss dieser aufwändig hergestellten Spezialität tödliche Folgen haben kann, wird…

Mensch und Natur
Rezensionen , Romane / 22. März 2022

Es fängt wieder an: An diesen sonnigen Frühlingstagen rollt die Ausflugswelle in die Berge und an die Seen wieder. Die Folgen: Müll am Wegrand, zerstörte Brutstätten, aufgescheuchtes Wild. Menschen, die sich in der Natur rücksichtslos verhalten, sorgen für Unmut bei den Anwohnern. Im neuen Krimi von Nicola Förg wird dieser Unmut tödlich enden.  Hohe Wogen  heißt der Roman, und hohe Wogen schlägt auch der Mord an einem weiblichen Location-Scout. Mord mit Fünfzack Die Frau, die mit einem Filmteam am Starnberger See aktiv war, wurde auf ihrem SUP mitten im See gefunden – aufgespießt mit einem Fünfzack. Irmi Mangold und ihre Kollegin Kathi Reindl geraten bei ihren Ermittlungen zwischen alle Fronten: Freizeit-Wassersportler, Berufsfischer, Ausflügler, Naturschützer, LKW-Fahrer und Filmleute. Dazu noch ein Cannabis-Händler und Gender-Fragen. Umweltsünder am Pranger Auch dieser neue Fall, in dem Corona noch eine wichtige Rolle spielt, gibt der versierten Autorin und engagierten Naturfreundin Nicola Förg reichlich Gelegenheit, Umweltsünden anzuprangern. Die hatten in Corona-Zeiten noch zugenommen, und Nicola Förg, die selbst auf dem Land lebt, sah sich mit den Folgen rücksichtsloser konfrontiert. Show-down am See Wie immer packt sie ihr Plädoyer für die Natur und die Tiere in eine durchaus spannende Geschichte und lenkt den Verdacht der Lesenden in…

Liebe, Krieg und Chaos
Rezensionen , Romane / 21. März 2022

Nino Haratischwili,  der Name ist Garant für eine eher selten gewordene Leidenschaft am Erzählen.  Auch diesmal. Ein Buch, schwer wie ein Backstein, das auch manchmal schwer im Magen liegt. Doch Nino Haratischwilis neuer gewichtiger Roman „Das mangelnde Licht“ ist auch ein Buch, das man kaum aus der Hand legen will, ein mitreißender Roman trotz der allgegenwärtigen Gewalt, von der er – auch – erzählt. Die in Georgien geborene Nino Haratischwili, die schon mit ihrer Familiensaga „Das achte Leben für Brilka“ überzeugt hatte, zeigt sich in diesem Roman über die Umbruchszeit der 1980er und 1990er Jahre wieder als großartige Autorin. Beklemmend aktuell Man könnte ihr vielleicht ihre überbordende Erzähllust vorwerfen, ihre geringe Scheu vor Klischees, Metaphern und der Verwendung von Adjektiven. Aber all das ist marginal angesichts der beklemmenden Aktualität und der spannenden Konstruktion dieses Romans. Es ist eine Fotoausstellung in Brüssel, bei der sich drei der vier georgischen Freundinnen nach Jahrzehnten wieder treffen. Und anhand dieser Fotos nimmt die Ich-Erzählerin, die Restaurateurin Keto die Leser mit in ihre Heimat und in ihre Kindheit in der Hauptstadt Tbilissi. Ein Spiegel der Gesellschaft Aufgewachsen ist Keto mit ihrem nach dem Tod der Mutter geistig stets abwesenden Vater, zwei hoch gebildeten Großmüttern und…

Der andere Tell
Rezensionen , Romane / 28. Februar 2022

Ui, da hat Joachim B. Schmidt den Schweizer Nationalhelden Tell ganz schön zerzaust. Ein armer Bergbauer ist sein Tell, der so gar nichts von Schillers Heldenmut hat. Erzählt wird die Anti-Heldengeschichte von einem Chor von Zeitzeugen. Darunter auch von Walter, dem Sohn, dem Wilhelm Tell auf Befehl des habsburgischen Reichsvogts Gessler den Apfel vom Kopf schießen muss. Desolate Lebensverhältnisse Der Schweizer Schmidt nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Erzähler die desolaten Lebensverhältnisse der Bauern beschreiben lässt, die Kleingeistigkeit in den engen Tälern. Nichts da von politischer Aufmüpfigkeit oder einem „einig Volk von Brüdern“. Nur ein täglicher Kampf ums nackte Leben und gegen eine Diktatur, die selbst die armseligste Existenz durch immer neue Schikanen bedroht. Der Gegenspieler von Tell Ja, auch der Gesslerhut spielt seine Rolle, aufgesteckt, um das dumpfe Bauernvolk Mores zu lehren. Der Harras hatte die Idee, Gesslers Sicherheitschef. Ein bösartiger Intrigrant ist das bei Schmidt und ein gemeiner Leuteschinder. Die Bauern verachtet er genauso wie den Reichsvogt, seiner Meinung nach ein verweichlichtes Bürschlein. Schmidt macht ihn zum eigentlichen Übeltäter und damit zum Gegenspieler Tells. Harras verkörpert die dunkle Seite der Macht, ein echter Kotzbrocken. Schwacher Reichsvogt Im Gegensatz zu ihm ist Schmidts Gessler durchaus zu…

Der Feind in der Wohnung
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2022

„Unser Glück“ heißt der Roman von Natalie Buchholz, und er erzählt vom Scheitern dieses Glücks.  Coordt und Franziska sind eigentlich ein glückliches Paar, und als der kleine Frieder noch dazu kommt, könnte alles perfekt sein. Doch es gibt immer etwas, was nicht so recht passt. Für die kleine Familie ist die Wohnung in Giesing zu klein geworden. Da kommt das Angebot einer großzügigen, ja luxuriösen Wohnung in einem Nobelviertel gerade recht, zumal die Miete eher moderat ist. Doch das Ganze hat einen Haken: Sie müssen einen Mitbewohner akzeptieren, den sie nicht kennen. Das Glück kehrt zurück Coordt,  dessen Perspektive Natalie Bucholz sich zu eigen macht,  ist skeptisch. Doch Franziska ist von der neuen Wohnung so begeistert, dass sich das Paar auf das Experiment einlässt.  Und tatsächlich scheint mit dem Einzug in die neue Wohnung das schon länger vermisste Glück wieder zurück in der jungen Familie.  Franziska lebt in der noblen Umgebung auf, findet in der Goldschmiedin Majtken eine bewunderte Freundin. Der Mitbewohner als Brandbeschleuniger Nur Coordt macht der unbekannte Mitbewohner zu schaffen. Zu Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Denn der Mann begnügt sich nicht mit einem Geister-Dasein, er dringt in das Privatleben der Mieter ein, ja beraubt Coordt seiner…

Hexenjagd in Russland
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2022

Sasha Filipenko, geboren in der belarussischen Hauptstadt Minsk, weiß, was Andersdenkenden im russischen Einflussgebiet droht: „Die Universität, an der ich in Minsk studiert habe, wurde von Lukaschenko geschlossen. Das Institut der freuen Künste und Wissenschaften, an dem ich daraufhin in Russland studiert habe, wurde von Putin geschlossen. Der unabhängige TV-Sender Doschd, bei dem ich gearbeitet habe, gilt heute als ausländischer Agent.“ In seinem neuen Roman „Die Jagd“ hat er persönliche Erlebnisse ebenso verarbeitet wie Erfahrungen von Kollegen. Herausgekommen ist ein Buch von beklemmender Aktualität gerade in Zeiten russischer Großmachtsbestrebungen. Im Fadenkreuz der Mächtigen Im Fadenkreuz der Mächtigen steht der aufrechte Journalist Anton Quint, ein junger Familienvater. Lange glaubt er daran, mit seinen Posts und Recherchen die Welt um sich herum zum Besseren verändern zu können. Quint zieht in den Kampf gegen die Korruption wie einst Quichotte in seinen gegen die Windmühlen.  Das Leben wird zur Hölle Doch das System schlägt zurück, erbarmungslos. Der korrupte Oligarch Wolodja Slawin setzt ein paar Typen auf den Journalisten an, die ihm das Leben zur Hölle machen. Ihr gnadenloser Vernichtungsfeldzug gilt auch der Familie des Opfers.  Quint soll dazu getrieben werden, außer Landes zu gehen. Für die Hexenjagd sind alle Mittel recht:  bösartige Verleumdungen, Dauer-Lärmbelästigung, …

Ein Afghane in Italien
Rezensionen , Romane / 6. Februar 2022

17 Jahre ist es her, dass der jugendliche Enaiat nach einer jahrelangen, beschwerlichen Flucht Italien erreicht hat. Sein Vater war in Afghanistan getötet worden, die Mutter hatte ihn nach Pakistan in Sicherheit gebracht und war mit den jüngeren Geschwistern zurück geblieben, bedroht von Verfolgung und Krieg. In Italien begegnet der junge Afghane dem Autor Fabio Geda, der seine Geschichte aufschreibt. Das Buch „Im Meer schwimmen Krokodile“ wird ein Verkaufshit und in 33 Sprachen übersetzt. Fabio Geda hilft beim Buch Im neuen Buch „Im Winter Schnee, nachts Sterne“ berichtet Enaiat nun selbst, wie es weiter ging – hin und wieder unterstützt von Fabio Geda. Der junge Afghane fühlt sich in Italien angekommen, kann lernen, sogar studieren. Hier hat er Freunde, baut sich eine Existenz auf. Aber er weiß auch, dass seine Mutter und seine Geschwister in ständiger Bedrohung und unter erbärmlichen Umständen leben. Sehnsucht nach der Heimat Auch von diesem Leben erzählt Enaiat – manchmal fast lakonisch, dann wieder voller Poesie. Seine Sprache ist durchdrungen von der Sehnsucht nach dem verlorenen Land seiner Kindheit: „Ich heiße Enaiatollah Akbari, aber alle nennen mich Enaiat. Ich kam in Afghanistan zur Welt, im Hazarajat, einer sehr unwegsamen, felsigen Bergregion westlich von Kabul, übersät von…

Das Leben – ein schwarzes Loch
Rezensionen , Romane / 19. Januar 2022

Es ist ein Kosmos der Abgehängten, den Angelika Klüssendorf in ihrem Roman „Vierunddreißigster September“ schildert. Ihr Zuhause ist ein ödes Kaff in der ehemaligen DDR, grau und trostlos wie die Menschen, die es bevölkern: Der Säufer Heinrich, der einbeinige Hans, die dicken Hubert, Bipolarchen, Eisenalex, die Transfrau Gabriela, die Schriftstellerin und ihr Trommler, das Rollschuhmädchen und natürlich auch Hilde und Walter. Das Paar, mit dem alles beginnt. Rätselhafter Totschlag Ein Paukenschlag: In der Silvesternacht schlägt Hilde ihrem an einem Gehirntumor erkrankten Ehemann den Schädel ein. Danach geht sie tanzen und verschwindet spurlos, während Walter als Toter auf sein Leben schaut –  und das des Dorfes. Warum Hilde ihn erschlagen hat, nachdem der Tumor  den Wütenden zu einem ruhigen Mann gemacht hatte? Er wird es nie erfahren. Auch nicht, wo Hilde abgeblieben ist. Nur, dass sie Gedichte schrieb auf Tschuktisch, die er mühsam zu entziffern sucht. Existentielle Fragen  „Die Hölle wäre zu wissen wer du wirklich warst“, bescheidet ihn der philosophierende Dr. Freud. „Warum wird man überhaupt geboren?“ fragt einer der Dorfbewohner den anderen. „Für welche Idee würdest du sterben?“ Der andere zuckt die Achseln.  Angelika Klüssendorf stellt die existentiellen Fragen, doch die Antworten bergen keinen Trost, sind von einer bestürzenden…

Versuch einer Wiederauferstehung
Rezensionen , Romane / 10. Januar 2022

Janine Adomeit überrascht mit einem lebensklugen und unterhaltsamen Debüt. Ein heruntergekommener Kurort, dessen Heilquelle versiegt ist, eine Handvoll mehr oder eher weniger sympathischer Bürger und ein paar junge Umweltaktivisten. Das ist der Ausgangspunkt ihres Romans „Vom Versuch einen silbernen Aal zu fangen“. Soweit so ungut. Viele Hoffnungen Doch dann wird bei Bauarbeiten ein Rinnsal entdeckt – mit den Eigenschaften der ehemaligen Heilquelle. Und schon schießen die Hoffnungen ins Kraut. Villrath könnte in altem Glanz wieder auferstehen, meint der etwas unseriöse Bürgermeister. Und Vera, die letzte Trägerin der Villrather Nixenkrone und trinkfreudige Wirtin der ertraglosen Kneipe „Stübchen“ denkt daran, ihren Traum von einem eigenen Frisörsalon zu verwirklichen und das Stübchen zu verkaufen. Kauziges Personal Zu den beiden gesellen sich noch einige kauzige Figuren: Der spießige Rentner Kamps, der sich mit einem Gewehr gegen vermeintliches Pack in Stellung bringt und seine Katzenschar lieber mag als seine Mitmenschen. Hotte, der ewige Verlierer, und seine Bärbel, die Schmalspur-Wahrsagerin. Veras Sohn Johannes, der keine Freunde hat und sich vor allem für Motorräder interessiert. Der charmante aber zwielichtige Harry, von dem Johannes die Erfüllung seiner Träume erwartet. Auch nette Seiten Dazu ein smarter Immobilienvertreter und ein Häufchen Umweltaktivisten, die beim Einsatz ihrer Mittel auch nicht grade…

Vom Wind verweht
Rezensionen , Romane / 31. Dezember 2021

Bachtyar Ali gilt als der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Seit Mitte der 1990iger Jahre lebt er im Exil in Köln. Doch in seinen Romanen und Gedichten kehrt er zurück in seine Heimat. So auch im Roman „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“, einem modernen Märchen. Djamschid Khan heißt dieser Onkel, wie der Autor ist er Kurde, und nach Foltererfahrungen nicht nur Haut und Knochen, sondern leicht und durchsichtig wie Papier. Höhenflüge und Bodenhaftung So leicht ist Djamschid, dass er immer wieder vom Wind erfasst und verweht wird, wobei er jedes Mal einen Teil seiner Erinnerungen verliert. So wird er zum heimatlosen und geschichtsvergessenen Menschen. Dafür ist er fähig zu Höhenflügen – gesichert an einem Seil, das seine Neffen Salar und Smail halten. Und doch reißt der Wind den papierdünnen Mann immer wieder mit sich fort. Odyssee am Himmel Es ist eine wilde Odyssee, wie Djamschid selbst einmal seine Flüge beschreibt. Und immer wieder erfindet er sich neu – als Aufklärungsflieger und Pazifist, als Frauenheld und Ehemann, als Gottgesandter und Prophet, als ruchloser Schlepper, als Volksbelustigung wider Willen und später als skrupelloser Erpresser. Während der Onkel ohne Erinnerung durch seine Abenteuer treibt, bleibt sein Neffe Salar Khan dem…