Das Leben ein Programm?
Rezensionen , Romane / 11. Oktober 2022

Der in Deutschland eher unbekannte französische Schriftsteller Hervé Le Tellier wurde 2020 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet. Dank des Romans „Die Anomalie“, der inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist. Eine Reihe von Personen Das Buch beginnt eher verwirrend als spektakulär. Kapitelweise treten Personen auf, als erster der Profikiller Blake. Dann auch der erfolglose Schriftsteller Victor Miesel, der in seinem Abschiedsbrief am Wert seiner Existenz zweifelt. Auch die attraktive Lucie, eine alleinerziehende Mutter tritt auf, der todkranke David oder die kleine Sophia. Das Jahrhundert-Unwetter Es wäre gut, wenn die Lesenden diese Porträts für die folgenden Seiten im Gedächtnis behielten. Denn all diese Menschen fliegen am 10. März 2021 von Paris nach New York. Nichts Besonderes heutzutage. Doch ein Jahrhundert- Unwetter verändert alles, auch wenn die Passagiere bei der Landung in den USA erst einmal nur froh sind überlebt zu haben und in ihren Alltag zurückkehren. Doppelte Identitäten Sie können ja nicht wissen, dass sich das Flugzeug während des Unwetters verdoppelt hat. Aus unerfindlichen Gründen fliegt die Zwillingsmaschine erst im Juni den Airport an und wird wegen der anomalen Auffälligkeiten auf eine Militärbasis umgeleitet. Schnell wird klar, dass sowohl Flieger als auch Insassen identisch mit der im März gelandeten Maschine sind….

Reisen als Lebenselixier
Reisebücher , Rezensionen / 11. Oktober 2022

Elke Heidenreich ist nicht nur eine interessierte Buchkritikerin, sie ist auch eine engagierte Reisende. Und davon erzählt sie in dem Hörbuch „Ihr glücklichen Augen“ – ganz so, als würde sie sich mit Freunden über ihre Reisen in alle Welt unterhalten. Dass Elke Heidenreich ihre auch in Buchform (Hanser Verlag) erschienen Reise-Erlebnisse selbst spricht, ist ein echter Glücksfall. Macbeth in Schottland Denn so kommen diese Reisen authentisch rüber, man glaubt ihr einfach, dass sie in Schottland auf den Spuren von Macbeth unterwegs war und in Wales auf denen von Dylan Thomas, dass sie sich in Lissabon Fernando Pessoa nahe gefühlt hat, dass sie sich im legendären Hotel Waldhaus im schweizerischen Sils Maria mit Literaten und Künstlern getroffen hat. Kritik am „name dropping“ Der ihr nicht immer wohl gesonnene Literaturkritiker Denis Scheck hat das „name dropping“ im Buch kritisiert. Mag sein, dass die Aneinanderreihung von klugen Zitaten noch klügerer Menschen am Anfang im gedruckten Exemplar nervt – sie tut es, wenn auch in geringerem Maße – auch im Hörbuch. Aber das ist schnell vergessen, wenn Elke Heidenreich von den Landschaften schwärmt, die sie durchwandert, von den Menschen, die sie getroffen hat. Schnoddrig und melancholisch Man hört ihr einfach gern zu, wenn sie…

Alltagssprache und Webslang
Reisebücher , Rezensionen / 5. Oktober 2022

Francoise Hauser ist Sprachwissenschaftlerin und sie weiß: Wer mehrere Sprachen spricht, tut sich in unserer globalisierten Welt leichter. Auch beim Reisen. Wobei manche Sprachen für Europäer leichter erlernbar sind als andere. Francoise Hauser hat sich die Mühe gemacht, die Besonderheiten auch asiatischer oder afrikanischer Sprachen aufzulisten. Japanisch und Chinesisch mit ihren sehr speziellen Schriften etwa oder Arabisch. Rund 6000 Sprachen gibt es auf der Welt und jede Menge Dialekte. 16 000 Wörter plappert jeder Mensch pro Tag. Da könnte es einem schon schwindeln ob der schieren Menge. Immerhin beruhigend, dass man mit einem Alltagswortschatz von 2000 bis 5000 Wörtern auskommen kann. Rück- und Einblicke in die Sprachen Doch Francoise Hauser begnügt sich nicht mit Aufzählungen, sie geht in dem dicken Buch in die Tiefe, zeigt, wie politische Verhältnisse sich auf die Sprache auswirken, wie Wörter reisen und wie Sprache und Denken zusammenhängen. Dazu gibt es nicht nur kurze Rück- und Einblicke, sondern auch lange Auflistungen von Wörtern und ihre Übersetzungen, die für die meisten wahrscheinlich kaum nutzbar sind. Es sei denn, sie interessieren sich für Chinesisch oder Koreanisch. Alte und neue Sprachen Aber die Sinologin erzählt auch von der Wiederbelebung des Hebräischen, das den Juden in aller Welt und dem…

Die Frau des Spekulanten
Rezensionen , Romane / 30. September 2022

Der Schriftsteller Hernan Diaz hat mit dem  Roman „Treue“ (im Original „Trust“ – Vertrauen)  ein literarisches Meisterwerk geliefert. Doch worum geht es in diesem verschachtelten Roman? Mit der Geschichte eine fiktiven Wallstreet-Milliardärs und seiner Frau lockt Diaz die Lesenden in ein literarisches Labyrinth, wobei er ein raffiniertes Spiel mit Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ treibt. Vier verschiedene Perspektiven In vier verschiedenen Perspektiven kreist Diaz um den Wallstreet-Tycoon Andrew Bevel und seine Frau Mildred. Am Anfang steht ein Roman um den erfolgreichen Aktienspekulanten Benjamin Rask und dessen psychisch kranke Frau Helen, die in einer Schweizer Nevenklinik an den Folgen barbarischer Experimente stirbt. Es folgt die Lebensgeschichte Andrew Bevels, die auffallend viele Parallelen zum Roman hat, in der Mildred allerdings in einem Sanatorium ihrem Krebsleiden erliegt. Die Memoiren der Journalistin Ida Partenza, die als 20-Jährige Bevels Memoiren teilweise aus der eigenen Fantasie ergänzte, rücken einiges zurecht. Doch eine Art Auflösung bringt erst Mildreds Tagebuch. Bilder einer Frau Wer also ist Mildred/Helen? Eine durch die Kindheit als Hochbegabte traumatisierte Frau, die der Fortschrittsglaube ihres Mannes umbringt? Eine warmherzige Mäzenin und liebevolle Ehefrau, die der Krebs dahinrafft? Oder eine kluge Finanzjongleurin, die bis an ihr Ende und darüber hinaus nicht aus dem…

Kraft tanken beim Wandern
Reisebücher , Rezensionen / 28. September 2022

Zwei Jahre waren Nina Stögmüller und Robert Versic auf der Suche nach Kraftplätzen im Salzkammergut unterwegs. Entdeckt haben sie viele: Kultplätze, Kapellen, heilkräftige Quellen, Wallfahrtsorte. In ihrem Buch „Märchenhafte Kraftplätze“ stellen sie 25 Wanderungen vor, die dazu einladen, im Salzkammergut Kraft zu tanken. Gemütlich bis abenteuerlich Die meisten Touren sind Rundwanderungen und sollten für „wandererfahrene Personen gut zu bewältigen sein“, wobei es auch da Unterschiede gibt. Manche Tour wie die zur Ewigen Wand und zum Predigtstuhl beinhaltet steile Felsstufen oder Drahtseilsicherungen, andere Wanderungen wie die zum Altausseer See und Gaisknechtstein sind eher gemütlich, wieder andere wie die zu den Steinklüften überraschen durch abenteuerliche Felsspalten und Kammern. Nixe und Eichhörnchen Dass Namen wie „Hexenküche“, „Felsentempel“ oder „Kalte Kuchel“ die Märchenerzählerin Nina Stögmüller zu eigenen Märchen inspirieren, kann man sich gut vorstellen. Ganz besonders märchenhaft ist die Wanderung zum Nixenfall beim Attersee. Und im Märchen vom Eichhörnchen und der Zaubernuss erwacht die sagenhafte Nixe zum Leben. Erfahrung mit Kraftplätzen Zu allen 25 Wanderungen hat die Autorin nicht nur Märchen und Sagen, sondern auch „Kraftplatzerfahrungen“ gestellt. Bei der Wanderung zur Falkensteinkirche am Wolfgangsee etwa ist es nicht nur das Heilwasser des Heiligen Wolfgang, der hier als Einsiedler lebte. Es ist auch der Durchschlupfstein,…

Eisige Abgründe
Rezensionen , Romane / 26. September 2022

Wütende Bärin heißt dieser verstörende Roman von Ingeborg  Berg Holm. Und die norwegische Autorin gibt schon im Prolog die ebenso unterkühlte wie abschreckende Atmosphäre vor: „So wird die Leiche liegenbleiben, mit einem Fleckchen nackter goldener Erde um den angenagten Schädel. .. Und selbst wenn der Körper sich vollständig aufgelöst hat und die Knochen verwittert sind, wird der Nylonanzug fortbestehen. Eine fossile Plastikhülle in Menschenform, gekrönt von einem Glorienschein aus Pflanzen, wo der Kopf zu Erde geworden ist.“ Drei Perspektiven und ein Kind Noch weiß niemand, wer von den drei Protagonisten die Leiche sein wird, die hier die Erde düngt. Es geht um Njal, Sol und Nina, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern. Vor allem aber geht es um Lotta, das Kind, um das die Gedanken der drei so unterschiedlichen Menschen kreisen. Wunschwelt und Realität Für Njal ist Lotta die Erfüllung seines nagenden Kinderwunsches, ein kleiner Mensch als Versprechen für die Zukunft. Für Nina, die auf Njal wegen ihres Körperumfangs wie ein „Fruchtbarkeitsfetisch“ wirkt, die aber nie Kinder wollte, war schon die Geburt ein Alptraum. Sie fühlt sich entfremdet und lehnt im tiefsten Inneren das Kind ab. Und Sol, die Njal wegen Nina verlassen hat? Die Pastorin mit den speziellen…

AlpenEis: Alles fließt
Reisebücher , Rezensionen / 26. September 2022

Man sieht es nicht, aber Gletschereis fließt – langsam und stetig. Zwischen zehn und 200 Metern pro Jahr, schreibt Angelika Jung-Hüttl in dem beeindruckenden Bildband AlpenEis. Mit diesem Fließen ist allerdings nicht das Schmelzen des Eises gemeint, das in den letzten Jahren bedrohliche Formen angenommen hat. Abschied vom ewigen Eis Ewiges Eis? Das war einmal. Der Geologe und Landschaftsfotograf Bernhard Edmaier stellt Fotos gegenüber, die er in einem Zeitraum von 20 Jahren aufgenommen hat. Eindrucksvoll dokumentieren sie den Gletscherschwund. Aber sie zeigen auch die Schönheit von AlpenEis : Die zerklüftete Gletscherlandschaft der Seracs, die blaugrünen Schmelzwasserseen am Ende der Gletscherzungen, die verzweigten Rinnsale aus den Tiefen des Eises. Die Gletscher schwinden Dann aber auch das: Gesteinsmassen am Rand der Gletscher, Moränenschutt auf den Eis, graue statt weiße Gletscher und vom tauenden Permafrost gespaltene Gipfel. Alles ist im Fluss. Die Gletscher schwinden wie der kleine Höllentalgletscher an der Zugspitze, neue Landschaften entstehen. Wo sich das Schmelzwasser der Gletscher ansammeln kann, entstehen Seen, auf den Steinwüsten, die zurückweichende Gletscher hinterlassen, keimt neues Leben. Gletschersturz an der Marmolada Noch gibt es rund 4400 Gletscher in den Alpen, aber vielen von ihnen droht der „Tod durch Klimaerwärmung“ wie dem Pizolgletscher im Schweizer Kanton Glarus….

Gefühle auf dem Müll
Rezensionen , Romane / 19. September 2022

Die Italienerin Nicoletta Verna hat bisher Sachbücher geschrieben. „Der Wert der Gefühle“ ist ihr Romandebüt. Und das ist ziemlich aufregend: Sie sind ein glamouröses Paar, die schöne Bianca und der erfolgreiche Herzchirurg Carlo. Doch sind sie auch glücklich? Zumindest bei Bianca, der Ich-Erzählerin in Nicoletta Vernas verstörendem Roman, kommen schnell Zweifel auf. Was hat es auf sich mit ihrem Zwang, Abfälle zu sortieren? Oder Dinge zu kaufen, um sie im Müll zu entsorgen? Das Drama ihres Lebens Nicoletta Verna gibt immer wieder kleine Hinweise auf ein Drama, das Biancas Leben überschattet – es ist der Tod ihrer bewunderten Schwester Stella. Doch warum das so ist und wie die 14-jährige Stella gestorben ist, das enthüllt sich den Lesenden nur ganz allmählich. Der Tod und seine Folgen Dafür erfahren sie, dass Biancas Mutter nie über den Tod ihrer älteren Tochter hinweg gekommen ist, dass der Vater die trauernde Familie verlassen hat, dass Bianca kaum Freunde oder Freundinnen hat. Außer Liliana, die engste Freundin Stellas, die auf den Rollstuhl angewiesen ist. Sie macht ihr Handicap allen anderen zum Vorwurf und scheint eine sadistische Freunde dabei zu empfinden, Bianca mit Erinnerungen an ihre tote Schwester zu quälen. Und dann wäre da noch die selbstgefällige…

Ein fröhlicher Landstreicher
Reisebücher , Rezensionen / 13. September 2022

Stephan Orth liebt das Reisen, gern zu Sofas in aller Welt. Doch in Corona-Zeiten war es nichts mit Couch-Surfing. „Nun stattdessen Einreisebeschränkungen, Flugausfälle, Abstandsregeln. Es ist, als wolle uns ein mikroskopisch kleines Virus klarmachen, endlich mit den Makro-Reiseexzessen aufzuhören und einzusehen, dass es nicht normal ist, für ein Viertel oder Sechstel eines Monatsgehalts um die halbe Welt zu fliegen.“ Aus- statt eingesperrt Doch immer nur zu Hause zu sitzen war auch nichts für den umtriebigen Journalisten, zumal er sich auch immer bewusst ist, dass „ohne persönliche Begegnungen ferne Länder immer abstrakter werden“. So kam er auf die Idee, vier Wochen durch sein einstiges Lieblingsland England zu reisen und dabei immer draußen zu bleiben. Aus- statt eingesperrt also. Zu Fuß, mit dem Rad, auch mal auf dem Fluss in einem Paddelboot. Ein Weg ohne Reiseführer „Ich bin eine Art pandemischer Katastrophentourist“, schreibt Stephan Orth am Anfang. Als solcher wird er viel erleben und sich immer mehr ans Draußensein gewöhnen. Und am Ende, nachdem er mehr als 750 Kilometer aus eigener Kraft geschafft hat „auf einem Weg, der in keinem Reiseführer der Welt vorgeschlagen wird“, könnte er sich vorstellen, wieder mal „ein fröhlicher Landstreicher mit Kreditkarte, Regenjacke und Auslandskrankenversicherung“ zu sein. Ein…

Liebe und Wut
Rezensionen , Romane / 11. September 2022

Kann es sein, dass traumatische Erlebnisse der Vorfahren auch noch die Nachkommen belasten? Alex Schulman ist überzeugt davon, dass sein Großvater, der Schriftsteller Sven Stolpe, an seinen unvermittelten Wutanfällen Schuld trägt. Weil er damit nicht nur seine Frau schockiert, sondern auch seinen Kindern Angst einjagt, beschließt er, dieser Wut auf den Grund zu gehen. Dabei stößt er auf ein Familiengeheimnis, das ihn zu einem Roman inspiriert. In „Verbrenn alle meine Briefe“ beschreibt Alex Schulman die eigenen Probleme, dokumentiert seine Expedition in die Familiengeschichte und konzentriert beides in einer  anrührend poetische Liebesgeschichte. Die Wut des Großvaters Die Wut des Großvaters, davon ist der Enkel überzeugt, hat die ganze Familie vergiftet: „Meine Mutter war die Jüngste von vier Geschwistern, sie hatte zwei Brüder und eine Schwester. Ich versuche, mich zu erinnern, aber ich glaube, ich habe nie alle vier zusammen gesehen. Sie hassten einander in wechselnden Konstellationen, Konflikte zogen sich über Jahrzehnte hin.“ Auch er selbst scheint davon vergiftet. Die Angst der Großmutter Alex Schulman erinnert sich an die Ferien bei den Großeltern, an den ewig unzufriedenen, mürrischen Großvater und die beflissene, ängstliche Großmutter. „Ich erinnere mich an ihre ständige Unterwürfigkeit, ihre Angst vor seiner Wut… Ich begriff nicht, warum sie ihn…